Der Generalmusikdirektor Europas

Felix Mendelssohn Bartholdy, Aquarell von James Warren Childe, 1830
Als die epochalen Leistungen des Dirigenten Mendelssohn gelten die Berliner Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829, die Leipziger Uraufführung der Großen C-Dur-Symphonie Schuberts sowie die Uraufführungen der ersten beiden Symphonien Schumanns. Dass Mendelssohn häufig Beethovens Partituren aufs Pult legte, entsprach einer seit 1800 nicht nur in Leipzig gepflegten Tradition. Die Fokussierung auf diese Namen – typisch für die deutsche Musikwissenschaft – führte zu einer posthumen Marginalisierung anderer Gegenwartskomponisten, die sich wie Louis Spohr (Symphonien Nr. 3-6) oder Franz Lachner (Symphonien Nr. 3, 5 und 6) mehrfach auf Mendelssohns Konzertprogrammen fanden. Sogar Carl Maria von Weber, dessen Ouvertüren und zweite C-Dur-Symphonie zu Mendelssohns Favoriten zählten, überlebte diesen Selektionsprozess nur mit Mühe. Am stärksten aber waren davon ausländische Tonsetzer betroffen.
Mendelssohn ist mit seiner „Hebriden“-Ouvertüre (1834) und seiner „Schottischen Symphonie“ (1842) zum Erfinder der europäischen Nationalromantik geworden und damit zu dem – neben Beethoven und Wagner – einflussreichsten Komponisten des 19. Jahrhunderts; er hat den Hauptstrom auch durch zahlreiche Nebenflüsse anschwellen lassen. Der Gefahren dieser Tendenz, dass nämlich „Töne zu politischen Waffen geschliffen“ wurden, war er sich durchaus bewusst. „Nur keine Volksmusik! Zehntausend Teufel sollen doch alles Volkstum holen!“ Schottische Dudelsäcke, Schweizer Kuhhörner und deutsche Jägerchöre bereiteten ihm Zahnschmerzen. Trotzdem förderte er, als Kind der Aufklärung, die künstlerischen Emanzipationsbestrebungen in den Nachbarländern, das Bestreben ihrer Komponisten, in Wien und Berlin, London, Leipzig und Paris gehört zu werden.
Unvermeidlich, dass er dabei seinem ästhetischen Ideal folgte, also einer klassizistischen Romantik. Auch spielten persönliche Sympathien und Antipathien eine gewisse Rolle. Selbst wenn Mendelssohn die in den 1840er Jahren entstandenen Symphonien Franz Berwalds noch kennengelernt hätte – die „Singulière“ wurde erst 1905 uraufgeführt –, wäre er ihnen gewiss aus dem Weg gegangen, denn er hatte den Schweden während ihrer gemeinsamen Berliner Zeit als unerträglich arrogant erlebt. Adolf Fredrik Lindblad kannte er noch länger; der schwedische Liedmeister war im Kreis der Uppsala-Romantik um Geijer, Atterbom und Almqvist aufgewachsen, mit dem acht Jahre jüngeren Mendelssohn stand er auf vertrautem Fuße, ihre künstlerischen Ansichten deckten sich zu hundert Prozent. Die Aufführung von Lindblads erster Symphonie C-Dur 1839 war indes mehr als ein Freundschaftsdienst, hat doch das Werk beachtliche Meriten. Es widerspricht vor allem im leidenschaftlich zerrissenen Adagio dem Bild vom sanftmütigen Lyriker – Lindblad durchlebte mit Jenny Lind, der „schwedischen Nachtigall“, eine jahrzehntelange Amour fou, die sich durch seine Gattin zu einer tragischen Ménage à trois auswuchs. Dass Mendelssohn die Symphonie kein zweites Mal dirigierte, lag an dem überlangen, schier endlos mäandernden Finalsatz, den andere Dirigenten zu kürzen pflegten.
Auch Hector Berlioz kannte er sehr gut. Sie hatten 1831 in Rom mehrere intensive, nicht unbedingt konfliktfreie Wochen miteinander verbracht. Obwohl sie künstlerisch über Kreuz lagen, ebnete Mendelssohn ihm zwölf Jahre später generös den Weg für ein Leipziger Konzert, bei dem Berlioz eigene Werke dirigierte, darunter die Ouvertüre „Le Roi Lear“. Luigi Cherubini hingegen gehörte fest zum Leipziger Repertoire, und Mendelssohn pflegte häufig Ouvertüren und Opernszenen des Wahl-Parisers aufzuführen. Nicht jedoch die Symphonie D-Dur, geschrieben 1815 für die Philharmonic Society London, bei der Uraufführung durchgefallen und vom frustrierten Komponisten in ein Streichquartett umgearbeitet. Solch ein Werk war schlichtweg nicht verfügbar, andernfalls hätte es Mendelssohn zweifellos geliebt – Toscanini verglich es nicht von ungefähr mit der „Italienischen Symphonie“…
Über Paris fällte er niederschmetternde Urteile: unmoralisch und oberflächlich, abstoßend auch die französische Pseudoromantik, die sich überwiegend in einem revanchistischen Napoleon-Kult erschöpfte. Gleichwohl holte Mendelssohn 1838 die erste Symphonie g-Moll von Étienne-Nicolas Méhul aus dem Archiv und ließ sie 1846 erneut spielen. Das Werk war zeitgleich mit Beethovens Fünfter komponiert worden, hinter der es in seinem dämonischen Furor kaum zurücksteht. Das Gewandhaus hatte sie 1810 zweimal programmiert und dann vergessen. Mendelssohns Einsatz blieb allerdings folgenlos, sieht man von einer Aufführung durch Carl Reinecke 1863 ab. Auch die Symphonien von George Onslow konnte er nicht dauerhaft im Repertoire verankern. Die hohe Wertschätzung für den Adelsspross englisch-französischer Abstammung, der auf einem Schloss in der Auvergne lebte, belegt am klarsten die dreimalige Aufführung der ersten Symphonie A-Dur. Damit stand Mendelssohn nicht allein, die Symphonie war bereits vor seinem Amtsantritt in Leipzig fünfmal erklungen; nach Mendelssohns Tod 1847 gab es dort insgesamt nur noch drei Onslow-Symphonien zu hören.
Mendelssohn hat in ganz Europa die Komposition von Symphonien angeregt – aber überlebt haben diese Werke nur in den nationalen Nischen, sofern sie nicht – wie Onslow durch Saint-Saëns – totgeschwiegen wurden. Auch bereits etablierte Komponisten bekamen durch seinen Einsatz erheblichen Aufwind. Johann Wenzel Kalliwoda musste nicht erst entdeckt werden, denn unmittelbar nach der Leipziger Aufführung 1826 ging seine erste Symphonie f-Moll durch zehn deutsche Städte. Kalliwoda stammte aus Prag und hat dort auch studiert. Zur tschechischen Musik ist er nicht zu zählen, Nationalkolorit bei ihm fast gar nicht zu bemerken. Mendelssohn und Schumann schätzten den Hofkapellmeister von Donaueschingen außerordentlich; Hermann Kretzschmar schrieb noch um 1900 über Kalliwodas Dritte in d-Moll: „Der erste Satz ist einer der charaktervollsten Symphoniesätze, die je geschrieben worden sind; in seiner blütenlosen Starre und Strenge hat er kaum seinesgleichen. Sein kahles und steinernes Hauptmotiv, welches schon fremdartig in die Einleitung hineinklingt, gehört zu jener Klasse von Themen, mit welchen es nur ein Genie wagen darf.“
Mendelssohn hat diese Dritte nie dirigiert. Sie war vor seinem Amtsantritt als Gewandhauskapellmeister 1835 bereits dreimal in Leipzig erklungen, weswegen er wohl andere Werke vorzog. Im März 1840 sorgte er für die Uraufführung der fünften Symphonie h-Moll, die damals als Kalliwodas Meisterwerk betrachtet wurde, wiederholte sie im November und hob keine drei Monate später die Siebte in g-Moll aus der Taufe.
1840 verhalf Mendelssohn einem anderen Prager Komponisten vorübergehend zu Aufmerksamkeit. Die „Jagd-Symphonie“ Es-Dur von Johann Friedrich (Jan Bedřich) Kittl war 1839 von Louis Spohr in Kassel aufgeführt worden, und obwohl Kittl vor Dankbarkeit zerfloss, bat er doch um eine Empfehlung nach Leipzig, „diesem Weltmarkte der Kunst“, und fügte eine für die Verhältnisse sehr bezeichnende Entschuldigung hinzu: „Ich hoffe, dass ich durch dies mein Ansuchen mir Ihre Gunst nicht verscherzt habe und dass Sie liebreich von der Sonnenhöhe Ihres Ruhms in das dunkle Tal hinabsehen, wo ich schmachte, und mir Ihre Hand nicht versagen.“ Spohr kannte den Unterschied zwischen Kassel und Leipzig – schon im nächsten Jahr war das unterhaltsame Stück im Gewandhaus zu hören. Die auf den Spuren der „Pastorale“ wandelnde „Jagd-Symphonie“ fand großen Anklang beim Publikum; Schumann lobte, ein wenig ironisch, ihren „fröhlichen Anstrich“ und dass die Hörner „oft waidmännisch genug“ erschallten.
1843 übernahm Kittl die Leitung des Prager Konservatoriums und galt nun als die neben Wenzel Johann Tomaschek (Václav Jan Tomášek) zweite prägende Persönlichkeit an der Moldau. Das Gewandhaus hatte letztmalig 1816 Tomaschek gespielt. Die Zeit jener in Wien lebenden, unter ihren germanisierten Namen erfolgreichen Tschechen – Johann Baptist Wanhal, Leopold Kozeluch, Paul Wranitzky – war bereits im 18. Jahrhundert abgelaufen. Von einem gesetzmäßig wirkenden Musik-Darwinismus kann allerdings keine Rede sein, manchmal blieben auch echte Dinosaurier auf der Strecke, etwa der aus Mähren gebürtige Franz Krommer, der sich mit fünf seiner neun Symphonien und vor allem dank seiner Klarinettenkonzerte noch bis 1823 im Leipziger Programm gehalten hatte. Mendelssohn interessierte sich für diese Meister nicht mehr – und für einen, den größten unter ihnen, konnte er sich nicht interessieren: für den jung verstorbenen Autor einer phänomenalen, erst 1957 gedruckten D-Dur-Symphonie: Jan Václav Voříšek.
Der Leipziger Konzertkalender belegt die über Jahrhunderte gewachsene, einzigartige deutsch-tschechische Musiksymbiose auf beeindruckende Weise. Ungarn und Polen, ja selbst Dänemark, Schweden und England waren dagegen Entwicklungsländer. Insbesondere die ungarische Kunstmusik war noch weit von ihren Höhen entfernt, als Mendelssohn in Leipzig den Taktstock führte. Zwar wurden überall Petitessen à la hongrois gegeigt und geklimpert, Beethoven verwendete ungarische Themen sogar in der „Eroica“, aber die Ungarn selbst waren mit Kunstmusik noch nicht in Erscheinung getreten, jedenfalls nicht mit philharmonischer. Die 1842 entstandene D-Dur-Symphonie Michael Brands, der sich später Mihály Mosonyi nannte, der erste ungarische Beitrag zu dieser Gattung, kam nie so recht über Pest hinaus, und wenn, hätte sie aufgrund 200-maliger Wiederholung des Hauptmotivs bei Mendelssohn auch keine Chance gehabt. Mendelssohn und Franz Liszt wiederum verband eine legendäre Rivalität. Wenn Liszt in Leipzig konzertierte, überließ Mendelssohn anderen Dirigenten den Taktstock.
Langfristig übten beide einen gleich starken Einfluss aus, egal wo. Selbst weit hinter den transsilvanischen Bergen galt Mendelssohns Stil als verbindliches Muster, wie die erste rumänische Symphonie beweist, die George Ştephănescu 1869 schreiben sollte. Ganz anders lagen die Dinge mit Polen, dessen westlicher Teil damals von Preußen beherrscht wurde. Fürst Antoni Henryk Radziwiłł lebte in Berlin, saß im Herrenhaus des Landtags, verkehrte mit allem, was Rang und Namen hatte, und fiel durch seine musischen Neigungen auf; Beethoven widmete ihm die Ouvertüre „Zur Namensfeier“, Chopin sein Klaviertrio g-Moll, der dreizehnjährige Felix sein Klavierquartett Opus 1. Radziwiłł selbst schuf die historisch erste Vertonung des „Faust“, Mendelssohn führte sie 1837 in Leipzig auf. Er dirigierte auch das zweite und dritte Violinkonzert Karol Lipińskis und 1839 die „Symfonia charakterystyczna“ c-Moll von Ignacy Feliks Dobrzyński. Während sein Kommilitone Frydryk Chopin bereits vor dem Aufstand 1830 Warschau verlassen hatte, harrte Dobrzyński dort lebenslänglich aus. Nachdem die Symphonie bei einem Wiener Preisausschreiben den zweiten Platz belegt hatte, ließ Dobrzyński in Leipzig nach Aufführungsmöglichkeiten anfragen. Mendelssohn bemühte sich sogleich um die Partitur und erzielte mit dem originellen Werk eine sehr positive Resonanz. Die effektvoll instrumentierte Symphonie kündet von der Niederschlagung der ersten polnischen Revolution und den verlorenen Schlachten gegen die Russen, aber genauso vom Freiheitswillen des unterdrückten Volkes. Das Charakteristische an dieser Symphonie sind die subtil verwendeten Tänze: Polonaise, Kujawiak, Mazurka und Krakowiak.
Von den Werken Chopins hielt Mendelssohn nicht viel, er empfand sie als manieriert und zuckersüß. Unter seiner Leitung wurden nur die Romanze und das Rondo aus dem Klavierkonzert e-Moll aufgeführt und die B-Dur-Variationen Opus 2. Menschlich war das Verhältnis ausgezeichnet, sie musizierten zusammen und verlebten öfter in Paris und Leipzig „tolle Tage“.
Eine erstaunliche Beziehung unterhielt Mendelssohn zu Johannes Verhulst. Er lud den jungen Mann, der ihm 1836 bei einem Besuch in Scheveningen vorgestellt worden war, nach Leipzig ein, wo sich Verhulst sofort akklimatisierte. 1838 übernahm er die Leitung der Euterpe-Konzerte, einer mit dem Gewandhaus konkurrierenden Einrichtung. Dort führte Verhulst 1842 seine kurz zuvor in Leipzig geschriebene Symphonie e-Moll auf, die Mendelssohns Klangwelt und Melodiebildung auf verblüffende Art kopiert. Für das Gewandhaus war diese Symphonie damit tabu, was den Kapellmeister aber nicht davon abhielt, sie den Herren der Konzertdirektion vorzuschlagen, natürlich erfolglos.Mendelssohn begnügte sich dann mit der Ouvertüre h-Moll, in der es streckenweise schon deftig holländisch rumort. Verhulst kehrte nach fünf Jahren in die Heimat zurück und übernahm sämtliche wichtigen Musikposten in Den Haag, Rotterdam und Amsterdam. Er agierte zunehmend als glühender Patriot und Reaktionär – eine Gefahr, die alle Ex-Leipziger bedrohte.
Die Engländer weniger. Es war nicht zuletzt ihre kosmopolitische Gesinnung, die Mendelssohn immer wieder auf die Insel lockte, wo er gloriose Konzerte gab und vom Königshaus hofiert wurde (nicht umgekehrt). Dabei kam er, offenbar als einziger Deutscher, mit verschiedenen Komponisten in engen Kontakt, mit George Alexander Macfarren, dessen Ouvertüre „Chevy Chase“ er 1843 in Leipzig dirigierte, mit Philip Cipriani Potter, den er aber nur als Dirigenten und nicht als Komponisten von neun Symphonien wahrnahm, und vor allem mit Potters Schüler William Sterndale Bennett. Über ihn schrieb Mendelssohn einem englischen Kollegen: „I think him the most promising young musician I know, not only in your country but also here and I am convinced, if he does not become a very great musician it is not God’s will but his own.“ Bennett erfüllte diese Vorhersage mit seinen in Leipzig stürmisch gefeierten Klavierkonzerten Nummer 3 und 4 und dem Capriccio E-Dur; Mendelssohn brachte auch die Ouvertüren „The Naiades“ und „Die Waldnymphe“ zur Aufführung. Die von ihm erhoffte Symphonie wollte Bennett jedoch nicht vorlegen, erst 1865 konnte das Gewandhausorchester seine Symphonie g-Moll präsentieren. Englands erster international gefeierter Komponist hielt sich auf den Leipziger Programmen noch bis 1894. Dann endete auch dort allmählich die Zeit der Mendelssohn-Epigonen.
Nur einem blieb man länger treu – bis heute. Das Gewandhaus feierte 2017 den 200. Geburtstag von Niels Wilhelm Gade gleich dreimal mit dessen epochaler erster Symphonie c-Moll. Der Kopenhagener Musikverein, der 1841 Gades Ouvertüre „Nachklänge von Ossian“ prämiert hatte, lehnte eine Aufführung der Symphonie ab, und zwar mit der Begründung „zu sehr in der Manier von Mendelssohn Bartholdy“. Auf geheimnisvolle Weise gelangte das Manuskript dann in die Hände des großen Vorbilds, die umjubelte Uraufführung fand im März 1843 statt. Gade verwendete als symphonisches Leitmotiv eine Melodie, die er auf Ingemanns Liedtext „Paa Sjølands fagre Sletter“ gesetzt hatte. Der halb wehmütige, halb rustikale Wikingerton entschied über den Erfolg des strukturell eher dürftigen Stücks. Der junge Däne galt als Herold des Nordens, als authentische Stimme der Natur selbst, obwohl ihm sein Schwiegervater Johan Peter Emilius Hartmann zuvorgekommen war mit einer von Spohr 1837 in Kassel dirigierten Symphonie g-Moll.
Als Mendelssohn 1847 unerwartet starb, fanden die Leipziger einen kleinen Trost in der Tatsache, dass mit Gade ein Nachfolger bereitstand. Die nicht minder musiksüchtigen Briten hingegen gebärdeten sich, so ein Beobachter, „als sei die Sonne vom Himmel gefallen“.