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Leipzig

„Ein Gruß von mir an alle meinen Lieben“

Dem Komponisten und Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke zum 200. Geburtstag
Von
Klemens Hippel

Carl Reinecke in seinem Arbeitszimmer, um 1900

Schon seine Fotos sind etwas ganz Besonderes: Freundlich, manchmal gar lächelnd schaut Carl Reinecke drein, in einer Zeit, in der man sich für solche Zwecke ernst und formell inszenierte. Schade, dass er selbst dies für eine Charakterschwäche gehalten hat: Die große Strenge seines Vaters habe ihn „zu einer allzu weichen, nachgiebigen Natur“ gemacht, notiert er zu Beginn seiner umfangreichen autobiographischen Notizen. Sie sind eigentlich, wie er schreibt, nur für die Familie gedacht, „ein Gruß von mir an alle meinen Lieben“, wie er in einem vorangestellten Gedicht notiert. Sie stellen aber gleichzeitig ein interessantes Zeugnis über das Leben eines Komponisten des 19. Jahrhunderts dar. Denn was Reinecke über die Musiker und das Musikleben seiner Zeit mitteilt, ist äußerst aufschlussreich. Über den Virtuosen Sigismund Thalberg zum Beispiel erzählt er, nie habe er „einen schöneren Ton, einen blühenderen Gesang, eine klarere Technik“ am Klavier gehört als bei ihm; also auch nicht bei Franz Liszt, der, so Reinecke, unter vier Augen am schönsten gespielt habe, vor Publikum dagegen sich immer wieder zu „Barockem und Launenhaftem“ habe hinreißen lassen.

Reinecke ist ein ganz besonderer Zeitzeuge: Als er am 23. Juni 1824 in Altona zur Welt kommt, hat Beethoven gerade seine neunte Sinfonie uraufgeführt. Und Arnold Schönberg arbeitet an seinen revolutionär neuen „Drei Stücken für Kammerorchester“, als Reinecke am 10. März 1910 stirbt. Diese ganze Zeit von der Klassik bis zur Neuen Musik des 20. Jahrhunderts erlebte Reinecke nicht nur als Komponist, sondern auch als Pianist und Dirigent, Geiger und Herausgeber, Lehrer und Schriftsteller, vor allem aber als Wegbegleiter zahlreicher bedeutender Kollegen. In seiner Zeit wurden die Grundlagen gelegt für das Konzertwesen, wie wir es heute kennen. Reinecke war Teil der Zunft der reisenden Virtuosen, von Paganini eingeführt, von Liszt zum Kult gesteigert. Und wie dieses Konzertleben an der Basis ausgesehen hat, darüber gibt Reinecke interessante Auskünfte. Man präsentierte noch – natürlich – stets ganz neue, frisch komponierte Musik im Konzert. Als Reinecke 1843 Hummel und Beethoven in einem Konzert spielt, kritisiert ihn ein Kollege für seinen altmodischen Geschmack! Am Leipziger Gewandhaus nahm er später Mendelssohns Idee historischer Konzerte wieder auf. Und ganz nebenbei ist Reinecke der älteste Komponist/Pianist, von dem Aufnahmen existieren, in Form von Klavierrollen.

Um Reinecke zu verstehen, muss man sich vor allem von dem Gedanken verabschieden, es mit einem Künstler der zweiten oder gar dritten Reihe zu tun zu haben. Mag in unserem Konzertleben nur seine „Undine“-Sonate für Flöte und Klavier überlebt haben – seinerzeit war er so bekannt und populär, dass sogar Zigarrenkisten mit seinem Konterfei geschmückt waren. 1892 erschien seine erste Biographie. Liszt hat ihn so hoch geschätzt, dass er ihn als Lehrer seiner Töchter engagierte und sich in Paris persönlich für seinen Erfolg im Musikleben der Stadt einsetzte. Tschaikowsky ließ ihn nach Moskau einladen, und die Zeitungsbeiträge zu seinem 80. Geburtstag füllten ganze Seiten der Leipziger Presse.

Seine musikalische Ausbildung erhielt Carl Reinecke fast ausschließlich von seinem Vater Johann Peter Rudolf Reinecke (1795-1883), der sich seine Bildung überwiegend autodidaktisch angeeignet hatte. Rudolf Reinecke organisierte nicht nur wöchentlich Quartett-Abende zu Hause in der Altonaer Palmaille, sondern auch Konzerte mit einem Orchesterverein, in denen man Beethoven, Mozart und Mendelssohn aufführte und wo Carl Reinecke u.a. Liszt und Chopin vortrug. Als Pianist begleitete er auch den Chorverein des Vaters. Im nahen Hamburg hörte er die Musik-stars der Zeit: Clara Wieck, Alexander Dreyschock, Franz Liszt und Ole Bull. Die italienische Oper dagegen entdeckte er erst auf Reisen. Bereits mit elf begann er, Geigenunterricht zu geben – mit 14 lernte er rasch selbst Gitarre, um auch Gitarrenunterricht anbieten zu können. Erste Gelegenheiten, außerhalb Hamburgs aufzutreten, waren dann die seinerzeit regelmäßig stattfindenden Musikfeste.

1837 veröffentlichte er sein erstes Werk im Druck, mit 19 beschloss er, aus dem damals noch zu Dänemark gehörenden Altona nach Kopenhagen zu ziehen, um sich dort für ein Stipendium zu bewerben. Denn er wollte unbedingt nach Leipzig, wo Mendelssohn gerade die Musikhochschule gegründet hatte. Geld für die Reise bekam er mit Konzerten zusammen, die er erst daheim, dann unterwegs immer wieder veranstaltete. Seine Autobiographie erlaubt dabei tiefen Einblick in das ganz normale Konzertwesen der Zeit: Am 10. März 1843 spielt er in der Altonaer Tonhalle, und das „ansehnliche Sümmchen“, das er dabei verdient, wird offenbar gleich bar ausgezahlt, denn er reist am 11. März weiter nach Lübeck, wo er noch am selben Tag für den 16. März ein Konzert ankündigt. Für das muss Reinecke noch sechs Lübecker Musiker aufgetrieben haben, denn auf sein Programm setzt er ein Septett. Weiter geht es über Eutin und Kiel, wo er ebenfalls auf die Schnelle Konzerte gibt, und in Kopenhagen gelingt es ihm, dank einiger Empfehlungsschreiben, bei Hofe zu spielen und das Stipendium zu ergattern. Das sich allerdings als eine „nicht eben bedeutende“ Einmalzahlung erweist. Immerhin reicht sie, die Leipzig-Pläne umzusetzen: An einem Freitag Ende September um acht Uhr morgens geht es per Dampfschiff von Hamburg nach Magdeburg, wo er am Sonntag um drei Uhr morgens ankommt. Und gleich gibt es wieder die Möglichkeit, in einem Abonnement-Konzert aufzutreten, mit einem bemerkenswerten Programm: In einer Magdeburger Musikalienhandlung hat Reinecke als „soeben eingetroffene Novität“ Schumanns Klavierquintett op. 44 gefunden, das er „mit vier tüchtigen Streichinstrumentalisten“ durchspielt und dann gleich aufs Konzertprogramm setzt. Nach Leipzig geht es dann weiter mit der Eisenbahn – Reineckes erste Fahrt in „märchenhafter Schnelligkeit“.

Doch wie nähert sich ein junger Musiker, gerade in Leipzig angekommen, dem damals schon legendären Mendelssohn? Er geht einfach hin, mit pochendem Herzen, wird tatsächlich vorgelassen. Mendelssohn schaut rasch durch die natürlich mitgebrachten Kompositionen, die offenbar die rasche Sichtpüfung bestehen, denn der Meister will sie „einige Tage behalten, um sie durchzusehen.“ Bei einem zweiten Besuch ein paar Tage später wird dann vorgespielt, beim dritten Besuch ergeht das Urteil: Reinecke solle fleißig sein, dann werde man „in einigen Jahren schöne Werke“ bekommen.

Leider ist diese Episode auch ein Beleg, dass Reineckes Erinnerungen nicht immer verlässlich sind – in einem anderen Text über Mendelssohn und Schumann berichtet er nämlich, Nils Gade, den er in Kopenhagen kennengelernt hat, habe ihn „wärmstens empfohlen“ und Mendelssohn habe ihn daraufhin eingeladen. Wie dem auch sei: Zählbares herausgekommen ist für die eigene weitere Ausbildung nichts. Dabei wüsste man schon gern: Warum hat der junge Mann, der ins „Eldorado“ Leipzig wollte, um „ausschließlich meinen Studien“ zu leben, sich nicht an der Hochschule eingeschrieben? Oder wenigstens privat Unterricht genommen? Reicht das Geld nicht dafür? Will ihn niemand unterrichten? Ist er schon zu weit, um noch Unterricht zu brauchen?

Als Solist startet er aber durch: Am 16. November gibt er sein erstes Konzert im Gewandhaus. Am selben Tag debütiert dort auch der junge Joseph Joachim, mit dem Reinecke ein Leben lang befreundet sein sollte. Junge Künstler müssen damals übrigens ohne Honorar spielen – und die Einladung, dieses Konzert zu geben, bekommt Reinecke vier Tage vorher! Robert Schumanns Freundschaft erringt er, indem er ihm dessen drei Streichquartette und das Klavierquintett vorspielt – es sind Künstler wie Reinecke, die dem noch auf viel Ablehnung stoßenden Schumann erst zum Erfolg verhelfen.

Finanziell sind die drei Jahre in Leipzig für Reinecke kein Erfolg – als er 1846 zu einer Konzerttournee durch Europa aufbricht, hat er wieder 33 Taler in der Tasche, genauso viel wie bei der Ankunft. Über Bremen, Danzig und Riga geht es erneut nach Kopenhagen, wo er zwei Jahre als Hofpianist angestellt wird und König Christian VIII. ihm eine edle Uhr schenkt – nicht der einzige Gönner aus königlichem Hause, den Reinecke für sich einnimmt. Die Großfürstin Helene von Russland lädt ihn Jahre später in die Schweiz ein, um zum neu zu gründenden Petersburger Konservatorium beraten zu werden, die Großfürstin Catharina beherbergt ihn 1889 in Petersburg in ihrem Palais, wo sich Reinecke prompt in den über 600 Zimmern verirrt.

1848 verlässt Reinecke Dänemark im Zuge des beginnenden Kriegs und zieht wieder nach Leipzig. Für vier Konzerte im Gewandhaus bekommt er nun immerhin ein Honorar, aber es sind, zur Belustigung Liszts, nur acht Goldstücke, umgerechnet zwölf Taler pro Konzert. Zum Vergleich: In Bremen verdient er kurz darauf 1.100 Taler mit einem Konzert! Die zahllosen Auftritte in den privaten Leipziger Salons werden ohnehin nicht bezahlt. In 46 Jahren in Leipzig wird Reinecke dafür „bestenfalls einen Korb mit Blumen“ erhalten.

Sein weiterer Weg führt 1851 über Paris nach Köln, wo er als Musikdirektor endlich ein sicheres Einkommen hat und heiraten kann. Wobei sein Privatleben von vielen Schicksalsschlägen gekennzeichnet bleibt. Seine Mutter war gestorben, als er vier war, die zweite Frau seines Vaters starb 1830 nach einem Jahr Ehe. Auch Reineckes ersten beiden Frauen starben früh, ebenso wie sein erster Sohn.

Weitere Erfahrungen als Kapellmeister sammelt Reinecke ab 1854 in Barmen, 1859 wird er nach Breslau abgeworben. Von dort geht es zurück nach Leipzig, wo er 1860 Gewandhauskapellmeister wird – für nicht einmal 1.400 Taler im Jahr, weniger, als er in Schlesien verdient hat. Dafür ist er wieder in einem musikalischen Zentrum angekommen, in dem er, von vielen Konzertreisen abgesehen, den Rest seines Lebens bleiben wird. Berufen wird Reinecke, darauf legt er Wert, wegen seiner Leistungen als Komponist, nicht als Dirigent, denn die Zeit der nicht komponierenden Kapellmeister beginnt gerade erst. Über sie bemerkt Reinecke, sie neigten „zu allerlei Willkürlichkeiten, um dem Publikum interessant zu bleiben“. Vor diesem Fehler sei der Komponist-Dirigent bewahrt. „Fasse alles auf, was in dem Werke ruht, trage nichts hinein“ ist sein Wahlspruch. Auch der neuen Mode, auswendig zu spielen und zu dirigieren, hat sich Reinecke nie angeschlossen. Und vom aufkommenden Kult um die Dirigenten hält Reinecke gar nichts: „Man freut sich nicht mehr, diese oder jene Sinfonie von Beethoven zu hören, sondern man ist begierig zu erfahren, wie Herr N.N. sie ‚auffasst‘“.

Ob es auch solche Ansichten sind, die Reinecke in den 35 Jahren, die er Gewandhauskapellmeister bleibt, in den Ruf bringen, ein Reaktionär zu sein? Im verminten Gelände des Streits zwischen den „Neudeutschen“ um Liszt und seinen Gegnern ist er jedenfalls keinem der beiden Lager wirklich zugehörig. Mit Liszt ist er befreundet, aber er schätzt ihn nur als Pianisten und schreibt: „Es ist mir Zeit meines Lebens ein Herzenskummer gewesen, dass ich mich diesem großen Künstler und guten Menschen niemals durch aufrichtige Bewunderung seiner Kompositionen habe dankbar beweisen können.“ Die Brahms-Anhänger wiederum werfen Reinecke vor, zu wenig Brahms auf seine Konzertprogramme gesetzt zu haben. Der verteidigt sich mit der Auskunft, bereits 1860 Brahms’ op. 16 gespielt zu haben, das Spielen von „Novitäten“ sei jedoch schwierig gewesen: „Ich konnte zu jedem Konzerte nur höchstens zwei Proben halten.“ Reineckes Nachfolger Arthur Nikisch wird dagegen „fünf Proben und sogar mehr zu einem Werke“ veranstalten.

Neben seiner Stelle als Kapellmeister wird Reinecke auch an die Hochschule berufen, wo er mehrere Generationen von Musikern ausbildet, darunter so klangvolle Namen wie Ferruccio Busoni, Max Bruch und Frederick Delius. Gleich in seiner ersten Kompositionsklasse erwarten ihn Ernst Rudorff, Arthur Sullivan und Edvard Grieg, über die Reinecke notiert: „Wenngleich die beiden letztgenannten ihren früheren Lehrer an Berühmtheit übertroffen haben, so stehe ich doch nicht an, Rudorff als denjenigen zu bezeichnen, der die Aufgabe des Künstlers am ernstesten erfasst hat. Ich kenne nichts von Sullivan und Grieg, was den Sinfonischen Variationen von Rudorff an die Seite zu stellen wäre.“

1895 wird Reinecke aus seinem Amt als Kapellmeister gedrängt – als Komponist aktiv bleibt er aber bis zu seinem Tod. Sein umfangreiches Werk – 288 Werke mit Opuszahl und gut 70 weitere – umfasst alle Gattungen von Oper, Operette und geistlicher Musik über Lieder und Chormusik, Klavier- und Kammermusik bis zu Instrumentalkonzert und Sinfonie. Darunter ist mit vielfältiger Musik für den Klavierunterricht und seinen Kinderopern auch vieles, das gerade für die heutigen Bedürfnisse wieder passen würde. Dank seines 200. Geburtstags ist in diesem Jahr einiges live zu hören, und in Aufnahmen liegt inzwischen ein großer Teil seiner Werke vor. Für aktive Musiker, die sich mit seiner Musik befassen wollen, ist der Zugang zu seinen Werken leicht, nicht zuletzt aufgrund des unermüdlichen Einsatzes von Reineckes Ururenkel Stefan Schönknecht, der aus dem großen Schatz an Drucken und Manuskripten viele Werke wieder veröffentlicht hat. Und der in einem wunderbaren privaten Museum (fast) alles versammelt, was geblieben ist aus Reineckes Leben, sein Taktstock und sein Flügel, Metronom und Notenständer, Urkunden und Geschenke von Kollegen und Fürsten, Bilder und Bücher, Fotos und Noten... Es ist einen Besuch wert, auch nach den Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag.