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Interview

„Wir wollen der Maßstab bleiben!“

Der Konzertmeister Frank-Michael Erben über Tradition und Zukunft des Gewandhausorchesters und der Musikstadt Leipzig
Von
Arnt Cobbers
Foto: Jens Gerber

Anton Jivaev, Valentino Worlitzsch, Yun-Jin Cho, Frank-Michael Erben bilden das aktuelle Gewandhaus-Quartett

Wie kaum ein zweiter hat Frank-Michael Erben das musikalische Leben der Stadt Leipzig in den letzten 40 Jahren nicht nur miterlebt, sondern maßgeblich mitgestaltet. 1965 in Leipzig als Sohn einer Pianistin und des Gewandhaus-Solocellisten geboren, kam er nach dem Studium mit 20 Jahren ins Orchester und wurde ein Jahr später, 1987, einer der drei Ersten Konzertmeister. Seit 1993 ist er zudem Primarius des Gewandhaus-Quartetts. Er unterrichtete an der Leipziger Musikhochschule, war Erster Konzertmeister des Bayreuther Festspielorchesters und arbeitet immer wieder auch als Dirigent. 2009-14 war er Chefdirigent des Leipziger Symphonieorchesters.

Herr Erben, womit machen Sie mehr Eindruck: Wenn Sie sagen, Sie sind Konzertmeister des größten Sinfonieorchesters der Welt, oder wenn Sie sagen, Sie sind Primarius des ältesten Streichquartetts der Welt?

Ich sag sowas nie. Gestern aber saß ich in einem Lokal an einem See südlich von Leipzig, dessen Betreiber mich kennt. Kaum waren wir da, wechselte er die Hintergrundmusik zu Mozart und bedeutete den anderen Gästen: Wir haben heute einen besonderen Gast, das ist der Gewandhauskapellmeister. (lacht) Das war dann doch zu viel der Ehre. Orchester und Quartett – das ist für mich ein musikalisches Leben, das will ich gar nicht gewichten.

Leipzig ist eine Stadt der musikalischen Superlative. Prägt das die Stadt – noch immer?

Ja! Das Gewandhausorchester wurde ja 1743 von Kaufleuten gegründet, es war kein höfisches Orchester wie etwa die Staatskapelle in Dresden. Es waren Musikliebhaber, die sich einen regelmäßigen Musikbetrieb wünschten. Und bis heute wird das Orchester vom Bürgertum getragen. Man spürt diesen Geist in der Stadt – was sich auch darin ausdrückt, dass wir viel Feedback vom Publikum bekommen, bis hin zu Kommentaren zum Programm. Und man hat zum Glück nach der Wende schnell begriffen, dass die Musik ein gewichtiger sogenannter weicher Standortfaktor ist, wenn man Fachkräfte sucht. Da geht es nicht nur um die Wohn- und die schulische Situation, sondern auch um die Frage: Was können wir abends erleben? Und da kommen wir ins Spiel. Für eine Stadt dieser Größe ist das Kulturangebot hier exorbitant. Aber wir Leipziger sind es so gewohnt, ich kann mir das gar nicht anders vorstellen.

War der Stellenwert der Kultur und der Musik vor der Wende größer?

Er war riesig. Man hat damals das Anrecht, anderswo heißt es Abo, in der Familie weitervererbt. An ein Anrecht zu kommen, war ein Glücksfall – oder man hatte etwas zum Tauschen. Ich habe es mal erlebt, dass jemand eine Trabi-Bestellung gegen ein Anrecht tauschte! Zu DDR-Zeiten war das Kulturleben auch ein Ventil, um abzuschalten von der doktrinären Beeinflussung durch das politische Regime. Dann kam die Wende, da hatte man andere Dinge im Kopf, es brach zeitweilig der Publikumszulauf ein. Nicht zuletzt aber durch den Zuzug von überallher hat das Kulturleben neuen Schwung bekommen. Es ist aber immer auch abhängig von der Stadtverwaltung. Wir sind ein städtisches Orchester, und auch die Oper, das Schauspiel, die Musikalische Komödie – übrigens ein Edelstein! – werden alle finanziell von der Stadt getragen. Zum Glück hat sich Leipzig wirtschaftlich sehr positiv entwickelt, dadurch kann sich die Stadt dieses Kulturangebot leisten.

Sie sind ja in einem Musikerhaushalt großgeworden. War es klar, da bleibt man in Leipzig?

Mein Ziel war schon immer, im Gewandhausorchester zu spielen. Ich kam 1986 ins Orchester, wurde 1987 Erster Konzertmeister und erlebte die Wende. Es folgten diverse Offerten aus Berlin oder auch aus München, aber ich bin hiergeblieben. Wegen der Familie mit drei Kindern, aber auch weil ich inzwischen ins
Gewandhausquartett berufen worden war. Ich sag es mal vorsichtig: Das ist ein Hochamt. Da klingelt eines Tages das Telefon, und der Kollege, der ausscheidet, fragt, ob man seinen Platz übernehmen will. Wie früher in Bayreuth, da konnte man sich auch nicht bewerben. Ich bekam von dort schon 1988 den ersten Anruf, noch zu DDR-Zeiten, aber da war gerade meine erste Tochter geboren. 1993 kam der zweite Anruf, da hatte ich gerade das Quartett übernommen. Und dann kam 2006 der dritte Anruf – und 2007 hab ich meine erste Saison in Bayreuth gespielt. Das war hochinteressant. – Ich empfinde es als Glück, dass ich diesen Umbruch hier in Leipzig hautnah miterleben durfte. Nicht in eine Stadt zu kommen wie beispielsweise das wunderbare München, wo alles schon so fertig ist. Hier war es chaotisch, jede Woche entstand etwas Neues, das war eine tolle Erfahrung – trotz aller Schwierigkeiten.

Befanden sich die Staatskapellen in Berlin und Dresden und das Gewandhausorchester zu DDR-Zeiten auf Augenhöhe?

Das würde ich schon sagen. Man stand in Konkurrenz zueinander, aber es gab kein Ranking. Auch international waren alle drei Orchester gefragt. Das Gewandhausorchester war nicht nur ein Aushängeschild der DDR, sondern auch ein Devisenbringer. Und der künstlerische Ruf, was ja das Entscheidende ist, hat sich zum Glück nicht verändert. Ich wurde einmal in einem Live-Interview vom Bayerischen Rundfunk gefragt: Sagen Sie, heute spielen Sie Mendelssohn doch sicherlich ganz anders als zu Zeiten der DDR-Diktatur. (lacht) Der wusste es vermutlich nicht besser. Wir haben doch deswegen nicht anders gespielt! Die erste Gesamteinspielung der Mendelssohn-Sinfonien inklusive der Jugendsinfonien zum Beispiel stammt vom Gewandhaus­orchester unter Masur, und die hat zum Teil immer noch Referenzcharakter. Und was ich noch erwähnen möchte: Ich hab ja noch zehn Jahre Kurt Masur erlebt – das war speziell. Seitdem hat sich das Orchester alle Chefdirigenten selbst ausgesucht. Nach Beratung der Orchesterkollegen wurde der gewünschte Name dem Oberbürgermeister vorgelegt, das geht hier ohne Zwischenebenen: Zunächst kam Herbert Blomstedt, dann Riccardo Chailly und jetzt Andris Nelsons. Wenn ich höre, dass andere Orchester einen Chefdirigenten bekommen, ohne dass sie gefragt werden oder sogar ohne dass sie je mit diesem Dirigenten gearbeitet haben, kann ich nur den Kopf schütteln.

Waren es gute Entscheidungen?

Ich würde sagen, es waren zum Zeitpunkt des Geschehens die richtigen Entscheidungen. Und dann gibt es Entwicklungen im Orchester oder in der Biografie des Kapellmeisters, die irgendwann vielleicht einen Wechsel nahelegen.

Wie funktioniert ein Orchester mit 185 Mitgliedern? Kennen Sie die Kollegen alle?

Als ich Mitte der 1980er Jahre anfing, waren wir sogar 210! Je 36 erste und zweite Geigen! Damals gab es noch mehr Vorstellungen und Konzerte. Aber heute noch können wir parallel eine große Wagner-Oper und im Gewandhaus eine Alpensinfonie spielen. Und am Wochenende kommen die Motetten und Kantaten oder auch eine Passion mit dem Thomanerchor hinzu, die wir in Kammerorchesterbesetzung in der Thomaskirche spielen. Da wird Personal gebraucht. Und ein großes Orchester ist billiger als zwei kleinere. Natürlich hab ich jede Woche auch eine andere Besetzung um mich herum, das ist eine Herausforderung. Aber diese Flexibilität, die alle haben müssen, ist auch ein großes Pfund. Das musikalische Leben, das wir hier führen, ist hochspannend.

Wie bewahren Sie Ihren speziellen Orchesterklang?

Das ist ein sehr heikler Punkt. 1843 wurde das erste Konservatorium für Musik in Deutschland von Felix Mendelssohn Bartholdy hier in Leipzig gegründet – vor allem um den Nachwuchs fürs Gewandhausorchester auszubilden. Die Stimmführer des Orchesters haben dort von Beginn an unterrichtet. Dann hat sich das ausgeweitet, es kamen Komponisten wie Edvard Grieg, Leos Janácek oder Miklós Rózsa zum Studium. Die Ausbildung wurde immer internationaler. Aber ursprünglich war die Idee, vom ersten Tag der Ausbildung an ein Klangideal weiterzugeben. Ich hatte das große Glück, mit sieben Jahren schon an die Hochschule zu kommen, in die sogenannte Kinderklasse bei einem sehr guten Lehrer, Prof. Klaus Hertel, der auch im Gewandhausorchester als Aushilfe spielte. Die letzten zwei Jahre meiner Ausbildung habe ich zusätzlich bei einem der Ersten Konzertmeister des Orchesters studiert und werde nie vergessen: Als ich die Konzertmeister-Soli lernte, um mich bewerben zu können, hab ich die erste Sinfonie von Brahms aus der Originalausgabe von Arthur Nikisch um 1900 gespielt, da waren noch die Eintragungen des berühmten Edgar Wollgandt drin. Man ist damals sehr tief in die Tradition eingedrungen. Heute lehren an der Hochschule kaum noch Gewandhausmusiker und wenn, dann nur noch im Lehrauftrag. Wir haben in Leipzig Professoren aus aller Welt, die tolle Musiker sind, die aber vom Klang des Gewandhausorchesters und dessen Entstehung wenig Ahnung haben. Im Ergebnis spielen die Absolventen nicht mehr in der Art, wie wir es hier pflegen. Dabei ist das doch unser Standortvorteil, dass wir unseren ganz eigenen Klang haben! Die Bewerber kommen inzwischen aus ganz unterschiedlichen musikalischen Schulen, haben andere Mentalitäten. Die große Aufgabe besteht darin, sie zu integrieren und ihnen unseren Stil schmackhaft zu machen. Das kann gelingen, muss aber nicht. Und leider ist meine Erfahrung, dass man manche Entwicklungen erst nach der Probezeit erkennt.

Es besteht eine Gefahr für die Identität des Orchesters?

Ja, die ist groß. Wir versuchen die jungen Kollegen in alles einzubinden, die kommen gleich in die Nähe der vorderen Pulte und werden von Mentoren betreut. Aber dann sind sie auch schon in ihren Zwanzigern und entsprechend stark vorgeprägt. Früher konnte man in viel jüngeren Jahren in die Geheimnisse des Klangs und der Tradition eintauchen. Hinzu kommt: Professoren machen sich einen Namen, wenn ihre Studenten bei Wettbewerben Preise gewinnen. Die Schüler werden zu Solisten ausgebildet, sie lernen nicht, wie man eine „Leonoren“-Ouvertüre spielt oder das Scherzo aus dem Mendelssohn-„Traum“ oder wie man überhaupt phrasiert in einem Orchester. Von einem Stück aus dem Weihnachtsoratorium ganz zu schweigen. Viele Bewerber scheitern kläglich in der dritten Runde, weil sie nicht wissen, wie man eine Orchesterstelle entsprechend interpretiert. Es herrscht Unsicherheit,  wie man beispielsweise mit dem Vibrato oder dem Bogen in der Barockmusik umgeht. Das ist ein Riesenproblem!

Arbeiten Sie denn im Orchester noch mit altem Notenmaterial?

Es gibt ein paar Stücke mit alten Eintragungen, die ich für authentisch halte. Ansonsten spielen wir immer mit den neuesten kritischen Ausgaben. Herbert Blomstedt hat das sehr gefördert, er studiert selbst heute, mit Ende 90, noch immer die jeweils neueste Urtextausgabe! Das ist vorbildhaft für mich. Wir haben ja viele Uraufführungen gespielt und deshalb auch eine große Verantwortung, finde ich. Man darf nicht an falsch verstandenen Traditionen kleben, wir müssen immer auf dem neuesten Stand der Forschung bleiben.

Apropos Uraufführungen. In welcher Form prägt das das Orchester?

Ich kann nicht für meine jüngeren Kollegen sprechen, aber mich prägt das sehr. Ich empfinde es als Verpflichtung: nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer zu erhalten. Wir müssen die Zukunft gestalten, aber zugleich die Dinge von früher pflegen. Die siebente Sinfonie von Bruckner, die hier uraufgeführt wurde, das Brahms-Requiem, die zahlreichen Streichquartette, die erstmals vom damaligen Gewandhaus-Quartett aufgeführt wurden. Ich finde, da haben wir die Verpflichtung, der Maßstab zu bleiben, die Tradition lebendig zu erhalten und auch den verschiedenen Epochen und Stilen gerecht zu werden, von Bach bis heute. Das betrifft auch die Uraufführungen, die wir heute spielen: Die Komponisten sollten mit unserem Klang wuchern. Mein musikalisches Leben ist Klang!

Haben Sie auch einen Instrumentenfundus?

Wir haben einen Freundeskreis und großzügige Förderer, die uns sehr helfen. Es ist zum Beispiel gelungen, das berühmte Cello von Julius Klengel wieder zu erwerben. Ich selbst spiele auch ein sehr schönes italienisches Instrument, das dem Orchester gehört.

Wie wichtig ist die akustische Qualität des Gewandhauses fürs Orchester?

Ganz wichtig! Klanglich ist der Saal des Gewandhauses einfach hervorragend. Wenn sie in einem guten Saal spielen, können sie ein klangliches Ideal, einen Maßstab entwickeln, kleinste Nuancen hören und zum Beispiel ein Piano ins Nichts hinein ausprobieren. Nur in akustisch trockenen Sälen zu spielen frustriert mit der Zeit. Was bei uns noch hinzu kommt: Wir haben einen Backstagebereich wie kaum ein anderes Konzerthaus, großzügige Garderoben, genügend Platz zum Probieren.

Ist Kurt Masur immer noch eine Lichtgestalt?

Er hat einen unangefochtenen Ruf als Initiator dieses Hauses, er hat Honecker die Finanzierung abgerungen und auch den Bau beeinflusst. Und er hat sich sehr dafür eingesetzt, das Orchester in seinem Klang zu erhalten.

Warum führt die Oper Leipzig international so ein Schattendasein – obwohl da eines der unbestritten besten Orchester der Welt spielt?

Das liegt auch am Budget, an der Auswahl der Dirigenten und der Solisten. Da gibt es leider ein gewisses Gefälle zwischen Konzert und Oper, was wir als Orchester natürlich gern ändern würden.

Direkt neben dem Gewandhaus sitzt das MDR-Sinfonieorchester. Die haben eine undankbare Rolle.

Ja, aber früher haben sie als Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig eine sehr wichtige Rolle gespielt, sie hatten einige bedeutende Chefdirigenten und wie alle Rundfunkorchester den Auftrag, das Repertoire zu erweitern und für den Hörfunk einzuspielen. Nach der Wende gab es Probleme  mit diversen Personalentscheidungen, aber Dennis Russel Davies beruhigt die Situation gerade merklich. Das Orchester hat immer noch sein treues Publikum. Und sie haben den tollen MDR Chor – ein Juwel! Gerade haben wir mit diesem hervorragenden Chor unter Leitung von Franz-Welser Möst das Verdi-Requiem aufgeführt. Ein absolutes Highlight, so will man Musik machen!

Sie waren von 2009 bis 2014 auch Chefdirigent des Leipziger Symphonieorchesters. Was ist das für ein Orchester?

Das LSO wurde vor über 60 Jahren als sogenanntes Arbeitersinfonieorchester gegründet. Eine seiner Aufgaben besteht darin, das Leipziger Umland in einem Radius von zirka 50 Kilometern mit sinfonischen Programmen, Opern- und Operettenkonzerten und Oratorien zu bespielen. Eines schönen Tages fuhr bei einer unserer Proben im Böhlener Kulturhaus, wo das Orchester sein Domizil hat, der Dienstwagen von Kurt Masur vor. Er stieg aus und sagte: Ich möchte mal eine Probe von Ihnen hören. Ich antwortete: Wir bereiten aber gerade ein Musical-Programm für ein Open-air-Konzert vor. Masur hat sich trotzdem mit seiner Frau die ganze Probe angehört, um hinterher zu sagen: Wir machen das! Ich fragte: Was machen wir? Von dem Zeitpunkt an machte er seinen internationalen Dirigier-Meisterkurs in Böhlen mit dem Leipziger Symphonieorchester, und das bis zum Schluss. Einmal war er mit einem Studenten nicht einverstanden und sagte: Setzen Sie sich mal hin. Dann stellte er sich vors Orchester, und plötzlich spielten die fünf Klassen besser! Ich hab ihn gefragt: Wie haben Sie das denn hingekriegt? Und er antwortete: Wissen Sie, als ich so jung war wie Sie, haben die Orchester auch nicht gemacht, was ich wollte. – Dank meiner persönlichen Kontakte konnte ich auch Solisten wie Alban Gerhardt oder Bernd Glemser nach Böhlen einladen, und davon profitiert dann auch das ganze Orchester.

Verfolgen Sie die Dirigentenkarriere weiter?

Ja, ich dirigiere demnächst das Philharmonische Orchester Erfurt und auch wieder das LSO, zuletzt habe ich eine Neujahrsgala im Berliner Konzerthaus dirigiert. Das ist interessant, denn wenn ich dirigiere, weiß ich genau, was in den Köpfen der Kollegen vor sich geht, weil ich ja einer von ihnen bin. Ich habe einiges von guten Dirigenten abgeschaut, die ich als Konzertmeister erlebt habe. Man lernt dabei auch viel über eine effektive Probenarbeit. Und ich versuche, Fehler zu vermeiden, die mich selbst an anderen Dirigenten stören.

Ein festes Theater für Operette und Musical ist auch eine Seltenheit.

Die Musikalische Komödie ist ein tolles Haus! Ich hab da ein paar Mal „My Fair Lady“ dirigiert. Man sagt so leicht dahin: Naja, Musical und Operette... Aber eigentlich lernt man da das Handwerk, das hat schon Karajan gesagt. Für mich war das eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit.

Wie schaffen Sie es, in Ihren Terminplan noch das Gewandhaus-Quartett zu integrieren?

Das ist nicht einfach. Um das Level mit einer neuen Besetzung zu erreichen und dann zu halten, müssen Sie so viel proben wie ein freischaffendes Quartett. Oft haben wir vormittags Orchesterprobe, von 13 bis 16 Uhr Quartettprobe, abends Vorstellung. Und wenn ein Konzert ansteht, proben wir natürlich auch am Wochenende. Wir hatten früher längere Tourneen, haben manchmal bis zu 50 Konzerte im Jahr gegeben – und das neben dem Orchesterdienst. Innerhalb unserer eigenen Aboreihe führen wir pro Jahr sechs unterschiedliche Programme auf. Macht 18 verschiedene Werke in einer Saison. Das hat dazu geführt, dass ich in 30 Jahren im Quartett über 250 Werke gespielt habe. Jeder, der dazukommt, muss erstmal das große Repertoire lernen. Zum Glück gibt es junge Kollegen, die das auch wollen.

Und im Sommer spielen Sie immer noch in Bayreuth?

Nein, das schaffe ich nicht mehr. Ich brauche inzwischen den Urlaub – und auch mal Abstand, um was ganz anderes zu machen. Im Sommer wird die Geige weggeschlossen. Und dann freue ich mich irgendwann wieder auf den Saisonbeginn.

Es gibt ein schönes Zitat von Clara Schumann: „Ach, wie beneide ich Leipzig um seine Musik!“ Kann man das heute noch sagen?

Ja, unbedingt. In der Leipziger Volkszeitung ist beispielsweise im Dezember immer eine ganze Seite voll mit Terminen, wo Sie das Weihnachtsoratorium hören können. In jeder kleinen Kirche gibt’s eine Kantorei, und überall spielen Musiker aus dem Gewandhaus, vom MDR oder von der MuKo mit. Wir haben das Mendelssohn- und das Schumannhaus mit den Kammerkonzerten, den Thomanerchor und eine Vielzahl freier Musiker. Das ist eine tolle Szene. Zum Glück weiß der Oberbürgermeister, wie schon seine beiden Vorgänger, das Musikleben hier zu schätzen. Im Gewandhaus gibt es darüberhinaus ein ambitioniertes Nachwuchsförderprogramm. Es werden Kinder aus den Kindergärten und Vorschulen in Proben eingeladen. Da spielen wir auch schon mal die Siebente Mahler, während die Kinder einige Minuten zuhören. Danach gehen sie ins Konzertfoyer und dürfen einige Instrumente selber ausprobieren. Und wenn sie Feuer gefangen haben, stehen die Musikschulen bereit. In den sogenannten Familienkonzerten sehe ich viele Kinder, die mit ihren Großeltern kommen. „Die Klassik stirbt“ – diesen Satz höre ich, seit ich Musik mache. Ich glaube nicht daran. Schon gar nicht in Leipzig!