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Musikgeschichte
1828
Franz Schuberts letztes Jahr
Von
Gerald Felber
Wilhelm August Rieder

Zu den spätesten, denkbar unpoetischen Hinterlassenschaften Franz Schuberts zählen einige Schreiben, die man im heutigen Sprachgebrauch als „Geschäftspost“ bezeichnen würde: Briefe an Verleger, in denen er ihnen neue Kompositionen offeriert oder aber dem Verbleib bereits übersandter Werke nachfragt. Gäbe es diese nüchternen Notate nicht, wären wir hinsichtlich der Entstehung solch epochaler Werke wie der letzten drei Klaviersonaten oder des C-Dur-Streichquintetts lediglich auf Indizien angewiesen. So aber lassen sich diese, gemeinsam mit weiteren Stücken höchsten Niveaus in ganz verschiedenen Gattungen (unter anderem die Es-Dur-Messe, die f-Moll-Fantasie für Klavier zu vier Händen und die 13 in den „Schwanengesang“ eingegangenen Lieder nach Rellstab und Heine) allesamt seinem letzten Jahr 1828 zuordnen.

Weniger in der puren Fülle niedergeschriebener Noten (schriebe man Schuberts finale Lebenszeit auf ein volles 365-Tage-Jahr zurück, kämen freilich mindestens noch die zweite Serie der Klavier-Impromptus und das ausladende Es-Dur-Klaviertrio aus dem Frühwinter 1827 hinzu), wohl aber in ihrer Verbindung mit einer enormen Qualitätsdichte kommt damit ein Jahrgang zusammen, dem musikgeschichtlich nur ganz Weniges – vielleicht Mozarts explosiv produktives „Figaro“-Jahr 1786 – an die Seite gestellt werden kann. Wir stehen hier, unabhängig von der „Massenfrage“, vor dem Rätsel, wie ein gerade 31-Jähriger fast rundum eine solch radikale Eigenständigkeit zeigt, dass er damit weit in die zukünftige Musikentwicklung hineinwirkt. Angesichts dessen wird fast unwesentlich, welche dann seine wirklich letzte niedergeschriebene Komposition gewesen sein könnte – vielleicht das freundliche „Taubenpost“-Lied, als Abschiedsgruß eines allezeit nach Wärme und Zuneigung suchenden Künstlers gar nicht so fehlplatziert?

Denn klar ist eines: Quasi-testamentarisch, wie man das mit einiger Berechtigung etwa Bachs „Kunst der Fuge“ oder den Vier letzten Liedern von Richard Strauss unterstellen darf, war keines der letzten Schubert-Werke gemeint. Der Wiener war bis Oktober 1828 niemand, der aus Todesvorahnungen heraus komponierte. Zwar waren diese ein halbes Jahrzehnt vorher mit seiner Syphilis-Infektion, erworben in einem Wiener Vorstadt-Bordell (ziemlich wahrscheinlich) oder durch zärtlich vertiefte Männerkontakte (umstritten, aber zumindest im Bereich des Möglichen), unabweisbar in sein Leben getreten als Erfahrungen körperlicher Entgleisung wie – zumindest partieller – sozialer Isolierung; und spätestens seitdem hatten sie auch sein Komponieren mitgeprägt, visionär verdichtet vor allem in der „Winterreise“.

Doch mit diesem Zyklus und ähnlichen Werken oder Werkteilen (vor allem langsamen Abschnitten mehrsätziger Stücke) war auch eine innere Aufarbeitung und Bewältigung verbunden; und die ersten acht Monate seines Sterbejahres, dessen tragische „Coda“ sich dann sehr akut in nur wenigen Wochen abwickelte, waren nicht nur musikschöpferisch, sondern auch gesellschaftlich von hochtourigen Aktivitäten geprägt, für die man keineswegs einen im Hintergrund lauernden Freund Hein verantwortlich machen muss. Schubert begann (wie noch Jahrzehnte später Anton Bruckner) Kontrapunktstudien bei Simon Sechter, besuchte mindestens eines, wahrscheinlich aber mehrere der als Sensationen besprochenen Wiener Paganini-Konzerte, unternahm im September eine mehrtägige „Pilgerfahrt“ zu Haydns Grab in Eisenstadt und hegte weitere Reisepläne; zudem gab es – aus Sicht des Komponisten lange überfällig – Anfragen hochrangiger Verlage, denen beispielsweise die schon erwähnten Briefwechsel entsprangen. Vor allem aber signalisierte der nachhaltige Erfolg seines ersten „Privatkonzertes“ am 26. März, dass nun endlich ein Durchbruch zu öffentlicher Anerkennung auch außerhalb des ihn lange Zeit moralisch (und manchmal auch finanziell) tragenden Freundeskreises gelungen war. Ohne die eben erwähnten, massiv die mediale Aufmerksamkeit okkupierenden Paganini-Auftritte wäre er womöglich noch deutlicher ausgefallen, schlug sich jedoch auch so schon im materiellen Status des Komponisten nieder: Erstmals durfte er sich als wirklich etablierter Freischaffender fühlen.

Zieht man alle, teils auch zufallsgenerierten äußeren Faktoren ab, so steht hinter diesen neu gewonnenen und mit fast manischer Aktivität ausgefüllten Freiräumen zwar tatsächlich ein Todesfall. Nur ist es nicht – als Vorausahnung – Schuberts eigener, sondern der Ludwig van Beethovens im März 1827, bei dessen Beisetzung Schubert als Fackelträger aktiv mitwirkte. Dass er sein eigenes Einstandskonzert genau auf die erste Wiederkehr dieses Todestages legte, war nicht zuerst eine Demutsgeste und noch weniger ein bloßer Zufall, sondern das nach außen gerichtete Signal einer inneren Befreiung. Die Messlatte war definiert, das Lernbare gelernt; jetzt sollte es auf einen unwiderruflich eigenen Weg gehen – nicht nur im Liedschaffen, wo er selbst bereits neue, wenn auch noch nicht rundum anerkannte Maßstäbe gesetzt hatte, sondern in der ganzen Breite der Gattungen.

Dass ihm dies aber in der verbleibenden Kürzestzeit nicht nur in ersten Anfängen, sondern sogar in überwältigender Fülle gelang, hatte wiederum vielleicht mit einem anderen, im Nachhinein doppelgesichtigen Ereignis zu tun: dem Umzug zu seinem Bruder Ferdinand (und damit in sein baldiges Sterbehaus) am 1. September. Einerseits hatte die noch nicht „trockengewohnte“ Neubauwohnung wahrscheinlich Anteil am rapiden Verlauf der finalen Erkrankung – den Symptomen nach am ehesten Typhus, der auf einen schon syphilitisch ausgehöhlten Organismus traf. Gesellschaftlich aber bedeutete die Veränderung eine – vielleicht als vorübergehend betrachtete, aber dann eben endgültige – Abtrennung von den alten Mechanismen des „Schubertiaden“-Freundeskreises. War der Wegzug doch auch einer von dessen Quasi-Primus Franz von Schober (auch beim Raten um mögliche schwule Intimpartner auf einer vorderen Rating-Position), bei dem der Komponist bis dahin als Untermieter gewohnt hatte. Einige Wochen später, aber noch vor Schuberts Tod, geht dann der Maler Moritz von Schwind – ebenfalls einer der möglichen „engeren“ Freunde – nach München: symptomatische Vorgänge, die nur bekräftigen, dass die alte Freundesherrlichkeit an einen toten Punkt und vielleicht schon an ihr Ende gelangt war. Auch äußerlich waren die Geselligkeiten seltener geworden.

Eigentlich müsste man diese Entwurzelung aus einem Milieu, von dem er viele Jahre Kreativität und Lebensmut bezogen hatte, in der Lebensbilanz des Künstlers als krisenhafte Bruchstelle kennzeichnen. Doch dem scheint keineswegs so gewesen zu sein, denn wenn es stimmt, dass er die drei letzten Klaviersonaten und das Streichquintett in nur einem Monat (September) wenn schon nicht gänzlich komponierte, so doch in großen Teilen fertigstellte – und damit zumindest auf dieser „Kurzstrecke“ auch Bach oder Mozart abhängte –, dann hat ihn die „splendid isolation“ in der Vorstadt kreativ nicht etwa gehemmt, sondern geradezu entfesselt. Zumal es scheint, dass er in den wenigen Wochen vor der letalen Krise nicht nur in den „kleinen“ Gattungen ein Wunderwerk nach dem anderen produzierte, sondern auch ins Große dachte und als Klavier-Particell eine neue Sinfonie konzipierte, die heute unter der Werknummer D 936a steht und von der es mittlerweile diverse Orchestrierungsversuche zum staunenden Nachhören gibt.

Peter Gülke, der sich in den späten 1970er Jahren als Erster an eine solche Aufarbeitung machte, spricht in Bezug auf ihr zentrales h-Moll-Andante von einer „Konzeption unerhörter Größe, bestürzend in einer nur Mahler vergleichbaren Eindringlichkeit der Klage“. Wobei Mahler, auf den man beim Hören dieser wie aus „gefrornen Tränen“ (Winterreise) gefügten Musik tatsächlich verfallen kann, sicher einen Extrempunkt im Nachdenken darüber darstellt, wohin Franz Schuberts Entwicklung ohne seinen frühzeitigen Tod hätte gehen können. Konkret sind solche „Was wäre, wenn“-Überlegungen natürlich hoch spekulativ, historisch eingebettet aber vielleicht nicht müßig – zumal in wechselwirkender Betrachtung mit jenen Komponisten, die sich später verbal oder in ihren Noten auf ihn beriefen.

Gerade wenn man um Schuberts lebenslanges Ringen mit dem Musiktheater weiß, bekommt zum Beispiel Friedrich Dieckmanns beim ersten Lesen erstaunliche Bemerkung, Richard Wagner sei mit seinem „Parsifal“ zum Schubertianer geworden, bei längerem Durchdenken immer mehr Sinn. Das Nebeneinander von schwebender Lyrik und machtvollen Maestoso-Blöcken (exemplarisch gleich im Vorspiel), die Weite der melodischen Linien, vor allem aber die schillernde Transparenz der Klangfarben und harmonischen Entwicklungen: Eine solche Entwicklung scheint, wenn dem Wiener die dafür notwendigen Jahrzehnte vergönnt gewesen wären, jedenfalls wesentlich naheliegender als etwa eine in Richtung streng schlackenloser Konstruktivität à la Brahms. Und indem Wagners letztes Bühnenwerk mehr als alles Vorangehende auch als rückspiegelnde Verarbeitung des ihn bewundernden Anton Bruckner erscheint, kommt hier ein weiterer „Zukünftiger“ ins Spiel, der mit Schubert nicht nur die (in seinem Falle ungleich ausführlicheren) Lektionen bei Simon Sechter teilt, sondern beispielsweise auch die organische Integration folkloristischer Elemente und weit atmender Sequenzketten in die musikalischen Abläufe oder den Ausbau der Sonatensatzform zur Drei­themigkeit – bei Schubert latent angelegt, bei Bruckner voll entwickelt.

Der „Parsifal“ wurde, ebenso wie Bruckners besonders schubertnahe sechste Sinfonie, Ende der 1870er Jahre begonnen: ein Zeithorizont, den auch Schubert bei glücklicheren Verläufen vielleicht hätte erreichen können – bei der Umbettung seiner Gebeine 1888 waren immerhin noch zwei (Stief-)Brüder aktiv zugegen. Doch so tragisch es für die Musikwelt ist, dass es dazu nicht kommen konnte, umso beglückender bleibt gerade deswegen Schuberts Bilanz nach nur anderthalb Komponier-Jahrzehnten – am dichtesten in der manchmal fassungslos machenden melancholischen Schönheit seines letzten Jahres.

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