
Sie ist eine Art Geheimtipp für Kenner – und wird es wohl auch bleiben. „Ich kann nur auf die Bühne gehen, wenn ich absolut überzeugt bin von einem Werk und dass ich es spielen muss.“ Diese kompromisslose Haltung, gepaart mit ihrer Vorliebe für Neue Musik, führt dazu, dass Tamara Stefanovich immer wieder hochkarätige Konzertangebote ausschlägt. Wenn sie dann doch einmal in einem der großen Häuser auftritt, sind spannende Konzerterlebnisse garantiert. Nach frühem Beginn als Wunderkind studierte Tamara Stefanovich in ihrer Heimatstadt Belgrad neben der Musik auch Psychologie, Soziologie und Pädagogik, ehe sie nach Philadelphia ans Curtis Institute und mit 21 Jahren nach Köln wechselte. Längst wohnt sie in Berlin, wo sie in den letzten Jahren nicht nur begonnen hat, Freejazz zu spielen, sondern auch zu zeichnen. An vielen Wänden ihrer luftigen, stilvoll eingerichteten Altbauwohnung hängen ihre feinen, abstrakten Schwarz-Weiß-Bilder.
Frau Stefanovich, zum hundertsten Geburtstag von Pierre Boulez haben Sie seine zweite Sonate aufgenommen.
Das ist ein Schlüsselwerk für mich. Als ich es kennenlernte, herrschte eine politische Krise in meinem Heimatland, ich hatte keine Konzerte, ich wusste nicht, ob ich weitermachen sollte oder nicht. Und da kam diese Sonate wie ein Signal für einen Neustart. Es war nicht Liebe, aber Faszination auf den ersten Blick und nötigte mir Bewunderung ab – für etwas, das ich nicht verstand. Dieses Labyrinthische des Werkes hat mich dann entscheidend ermutigt, an eine Grenze zu gehen, die ich einfach überspringen musste. Das ist, glaube ich, in der Kunst wesentlich. Wenn man uns immer wieder das Gleiche auftischt, entwickeln wir uns nicht weiter. Und Boulez’ Sonate hat diese Avantgardehaltung in sich. Boulez hat sie mit Anfang zwanzig geschrieben, nach einer absoluten Katastrophe – dem Zweiten Weltkrieg. Ich war damals Mitte zwanzig und hatte die Katastrophe des Balkankrieges hinter mir. Mich hat fasziniert, dass Boulez die traditionelle Form der Sonate als Startpunkt genommen hat für einen Neuanfang. Er hat eben nicht bei null angefangen, denn dann geht man in die Obskurität, da ist keine Kommunikation mehr möglich. Sondern er hat die Form von Beethovens Hammerklaviersonate als Ausgangspunkt genommen. Wie viel Mut muss man haben, um als junger Kerl in der Nachkriegszeit Beethovens schwierigste Sonate als Startpunkt zu nehmen! Das hat mir Mut gemacht.
Aber hört man diesen Bezug zu Beethoven wirklich? Ist das nicht doch eher ein radikaler Bruch?
Boulez ist nicht wie ein Alien mit dem Ballon auf der Erde gelandet, er arbeitet mit Phrase, mit Drama, er gestaltet die Form, er wandelt die gegebene Harmonie und die Grammatik um und entwickelt den Rhythmus weiter. Das sind Parameter, die man in jeder Art von Musik findet. Wenn Sie sofort ein einfaches Resultat bekommen wollen, sind Sie da verkehrt. Aber wenn Sie in eine neue Landschaft kommen, erkennen Sie auch nicht sofort, welcher Berg welche Höhe hat. Sie nehmen die Landschaft wahr und suchen dann Wege, auf denen Sie sie kennenlernen können. Natürlich ist diese Musik kompliziert. Aber das ist für mich nichts Negatives.
Wie war denn Ihre erste Begegnung mit dem Werk?
Das war ein Projekt an der Hochschule. Ich habe mir die Noten verschafft und versucht, sie mithilfe der phänomenalen Aufnahme von Pollini durchzusehen. Das ging am Anfang gar nicht. Dann habe ich gelesen, dass Pollini sechs Monate brauchte, nur um durchzukommen. Ich dachte, dann brauche ich zwei Jahre. Letztendlich waren es acht Monate, bis ich überhaupt eine Vorstellung von der Landschaft hatte. Man muss schon sehr hoch gehen, um sich einen Überblick zu verschaffen und das Werk für sich organisieren zu können. Man hat einerseits einen Komponisten vor sich mit einer unglaublichen Leidenschaft für Neues, für Explosivität. Andererseits ist die Organisation vielleicht nicht sofort hörbar, aber doch sehr sichtbar. Und deshalb darf man nicht einfach diese Ordnung zeigen und transparent machen, sondern man muss sich, wenn man sich die Übersicht über diese Landschaft verschafft hat, wie ein wildes Tier darin bewegen.
Haben Sie denn auch einen sinnlichen Zugang bekommen?
Sofort. Meine erste Begegnung mit seinen Werken war ein Workshop mit „Structure II“ für zwei Klaviere. Das war wie ein Surfen auf elektronischen Wellen, wie ein Drogenrausch. Ich habe sofort eine Gestik herausgehört und einen enormen Reichtum an Klängen und Düften, ganz neuen Parfüms. Das ist auch in der zweiten Sonate so. Die Schönheit des zweiten Satzes ist nur mit Debussy vergleichbar. Es ist am Anfang wie ein Herantasten an einzelne Töne wie bei Webern, ein Tanzen zwischen den Noten. Es sind Noten, die plötzlich aufblühen, wie eine Blume, die sich nach und nach öffnet, man sieht erstaunt diesen Reichtum, diese Schönheit, und am Ende schließt sie sich wieder. Und das Scherzo ist auch phänomenal. Als ich mit ihm gearbeitet habe, war ich erstaunt über die Diskrepanz zwischen seinem Image und seiner Person, wie ich sie kennengelernt habe. Da hat er zum Beispiel gesagt, es ist, als kommst du aus dem Wasser und die Wassertropfen lösen sich ganz langsam von deinen Fingerspitzen. Etwas Lyrischeres kann man sich gar nicht vorstellen. Oder im vierten Satz, da gibt es eine Detonation von einzelnen Noten, bis dahin herrscht eine unfassbare Polyphonie, wie im vierten Satz der Hammerklaviersonate. Und dann ballen sich plötzlich die Kräfte und werden zersplittert in kleinste Zellen, in Atome. Ich war unsicher, wie ich das gestalten wollte, als eine Art von Organisation oder als gewolltes Chaos. Und Boulez sagte: Stell dir vor, du steckst deine Hand in ein Bienenhaus und die Bienen stieben in alle Richtungen davon. Ich fand diese Metapher genial, weil ein Bienenhaus die organisierteste Struktur auf unserem Planeten ist. Man zerstört also etwas, was absolut perfekt strukturiert ist.
War es ihm wichtig, dass Sie jedes der unzähligen Details im Notentext befolgen? Oder hat er Ihnen Freiheit gelassen?
Ich kam schon übervorbereitet zu ihm. Er hatte mich schon mit der Sonate und den „Incises“, den „Structures“ und den „Notations“ gehört und sagte lächelnd, ich bräuchte seine Hilfe gar nicht mehr. Ich wollte das aber unbedingt. Es ging in unserer Arbeit vor allem um Gestik, um Dramaturgie, wie in der Arbeit mit Schauspielern auf der Bühne. Wer geht wohin, wer steht vorn, wer stört, wer erzählt?
Als ich in Belgrad studiert habe, haben wir Musikstudenten uns oft in einer Bar hinter dem wichtigsten Theater der Stadt mit den Schauspielern getroffen. Die fanden wir verführerisch, und wir haben oft darüber gesprochen, wie man an einem Theaterstück arbeitet. Und so arbeite ich bis heute, als würde ich ein Drama gestalten.
Ist die zweite Sonate von Boulez ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts?
Absolut. Es ist eines dieser Meisterwerke, die uns neue Möglichkeiten eröffnen mit den Kräften, die wir bis dahin gesammelt haben. Hier ist eine Virtuosität gefragt, die keinen Vergleich hat. Ich habe lange mit Pollini darüber diskutiert. Er sagte, das sei eine Mischung aus Debussy und Liszt. Das stimmt, aber ich finde, da ist auch noch dieses Skrjabin-Mysterium drin, etwa Labyrinthisches.
Ist es nicht ein bisschen frustrierend, dass so wenige Leute die Früchte Ihrer intensiven Arbeit hören wollen?
Gar nicht. Es gibt wenige Leute, die Bach besser finden als Beyoncé. Aber ich kann in meiner Auseinandersetzung mit Kunst nur widerspiegeln, was für mich relevant ist: eine avantgardistische Haltung. Die hatte schon Monteverdi genauso wie Boulez. Für mich muss ein Künstler vorn stehen und darf sich nicht ständig umschauen, was die anderen machen. Das ist auch eine Lebenshaltung.
Sich ein halbes Jahr lang nur solch einem Werk zu widmen, ist eine lange Zeit.
Finde ich nicht. Ein Baum, der sehr hoch wachsen will, muss seine Wurzel sehr tief in den Grund stecken. Aber wir benutzen heute nur die obersten zehn Zentimeter der Erde. Ich möchte in die Tiefe gehen, ich möchte so eigen sein, wie ich kann. Ich habe neulich von der Saatgutbank „Svalbard Global Seed Vault“ gelesen. Da sammelt man nicht nur drei verschiedene Samen, sondern versucht die ganze Vielfalt der Natur zu bewahren. Ich würde mir wünschen, dass wir das als Künstler genauso machen. Je mehr wir verschiedene Arten von Obst und Gemüse essen, desto besser ist es für unsere Gesundheit. Je mehr verschiedene Bäume wir in einem Wald haben, desto gesünder ist der Wald. Warum handeln wir in der Kunst nicht genauso?
Das klingt rational überzeugend, aber nicht unbedingt nach dem Lustprinzip.
Oh doch! Mich treibt die Lust an den Dingen, ich will ekstatisch sein. Aber mein Ziel ist nicht, ein irgendwie schönes, erfolgreiches Leben zu führen. Nein, ich will ganz hoch hinaus ins Spirituelle und nicht auf der Erde bleiben. Die Lust, die ich verspüre, wenn ich dieses Werk spiele, ist mit nichts zu vergleichen. Das ist eine körperliche, intellektuelle, harmonische Überforderung. Ich bin danach absolut am Ende – oder am Anfang von etwas Neuem. Das ist die absolute Glückseligkeit.
Warum kombinieren Sie die Boulez-Sonate mit Werken anderer Komponisten?
Dieses Werk ist wie eine Explosion, und man muss sich weit davon entfernen, um das ganze Ausmaß der Explosion zu erkennen. Aber ich wollte in der Sonatenform bleiben. Ich spiele die erste Sonate von Hanns Eisler, die keiner kennt und die Schönberg phänomenal fand. Die Bartók-Sonate ist in diesem Kontext die sich gut benehmende klassische Sonate. Dann kommt die erste Sonate von Schostakowitsch, die auch wenige kennen. Die ist voller frischem Esprit. Und zum Schluss erklingt als eine Art Epilog oder Rückkehr zum Ausgangspunkt eine Sonate von Scarlatti. Sie steht auch für eine Art epochenübergreifende Poesie, eine Poesie mit geradem Rückgrat ohne Sentimentalität, die wir verloren haben.
Das erinnert an den Sonatenmarathon, dreimal eine Stunde, den Sie in der Elbphilharmonie gespielt haben. Haben Sie nicht Sorge, das Publikum zu überfordern?
Ich will das Publikum überfordern. Wenn Sie in einen Konzertsaal gehen, wollen Sie doch nichts Normales hören. Nur durch Überforderung kommt man weiter, das ist in allen Bereichen des Lebens so. Ich möchte sterben können mit dem guten Gefühl, dass ich alles Potenzial aus mir herausgeholt habe. Ich habe dieses Programm mit den zwanzig Sonaten schon häufig gespielt. Und überall sind die Leute überrascht, welche Dialoge sich da entwickeln von Bach bis Ustwolskaja, und die Scarlatti-Sonaten zeigen den Weg, dass man heil aus der Sache herauskommen wird.
Sie haben vor Kurzem das Konzert für die linke Hand von Hans Abrahamsen aufgenommen. Wie ist es, im Spiel die rechte Hand wegzulassen?
Jedes Werk braucht irgendwo eine Bremse, eine Begrenzung. Diese Reduzierung auf eine Hand eröffnet einem neue Möglichkeiten der Genauigkeit und der Präzision. Es reduziert die Möglichkeiten des Interpreten, aber nicht die der Musik.
Wie ist es mit Ihrem Freejazz-Projekt, der Band SDLW? Gibt es da Begrenzungen?
Nicht von außen, sondern nur die, die mit unserem Geschmack zu tun haben. Das sind drei geniale Musiker, die auf mich zukamen mit der Frage, ob wir etwas zusammen machen wollten. Ich konnte bis dahin keine zwei Noten improvisieren. Sie waren in meinen Konzerten, wo ich Boulez und Stockhausen gespielt habe. Und da haben wir uns gefunden, auf diesem Planeten der 50er- bis 70er-Jahre-Avantgardemusik. Von da aus haben wir experimentiert und uns alles offengehalten. Das Einzige, das wir uns vorgeben, ist, ob es eine Long Session oder eine Short Session wird.
Es gibt keine Themen?
Da hat interessanterweise eine Entwicklung stattgefunden in den fünf Jahren. Wir haben inzwischen zwei CDs aufgenommen, und da ist ein Vokabular entstanden. Das ist wie ein Stadtplan, auf dem wir uns bewegen, aber jedesmal besuchen wir andere Orte. Und inzwischen können wir vorher darüber sprechen, in welchen Stadtteil wir heute gehen wollen. Ansonsten läuft alles übers Gehör, wie es in der Musik sein sollte. Ich schlafe nach diesen Konzerten 14 Stunden, weil ich Areale in meinem Gehirn benutze, die sonst nur kleine Kinder nutzen, Kreativität ohne Filter und ohne Bremse. Das ist erstaunlich erschöpfend im besten, ekstatischen Sinne.
Wie schaffen Sie es, dass Sie im Spiel nicht automatisch auf die Werke zurückgreifen, die Sie im Kopf abgespeichert haben?
Es gibt Momente, wo ich wirklich nicht weiß, wo ich bin. Ich bin kein esoterischer Mensch, aber es gibt Momente, wo irgendwas in meinem Kopf stattfindet, was ich nicht steuern kann. Ich habe darüber mit befreundeten Neurowissenschaftlern gesprochen. Die sagen, wenn man sich in der Improvisation nicht selbst filtert, dann nutzt man andere Areale im Hirn und kommt in dem Moment nicht an die Orte, wo der geschriebene Notentext abgespeichert ist. Es ist nicht, als würde ich durch einen Supermarkt gehen und aus verschiedenen Werken auswählen, die ich mal gespielt habe. Ich fühle mich nicht nur freier. Es ist einfach ein anderer Bewusstseinszustand.
Ist es nicht befriedigender, die eigene Kreativität auszunutzen und etwas Eigenes zu schaffen, als Werke anderer quasi nachzuspielen?
Ich besuche oft mit meinem Sohn dieses Illusionsmuseum, wo man in einen Raum geht und sich selbst in verschiedenen Spiegeln sieht. Genauso ist es in der Musik. Ich gehe in diese Räume von Boulez, von Stockhausen, von Bach und schaue, was spiegelt das? Und wie kann ich mich bewegen durch diesen Raum mit dem Publikum? Das sind ganz unterschiedliche Erlebnisse als Mensch, und das interessiert mich. Wer weiß, vielleicht bin ich in zehn Jahren nur noch Zeichnerin oder entdecke noch eine andere Kunstform. Ich habe gerade in Portugal ein Klavierkonzert gespielt, das Liza Lim für mich geschrieben hat und in dem ich auch singen muss. Ich hätte nie gedacht, dass ich so was machen würde. Da ist plötzlich noch eine extra Farbe von mir als Interpretin hinzugekommen. So muss man, glaube ich, künstlerisches Leben gestalten, dass man ständig irgendwo auf Neues stößt, dass man immer wieder neue Länder erforschen kann. Als ich Anfang zwanzig war, fühlte ich mich ein bisschen begrenzt im Repertoire, ich hatte keinen Zugang zu Neuer Musik. Und dann kam ich plötzlich in Verbindung mit Boulez, mit Stockhausen, mit Kurtág und so weiter und habe mit denen gearbeitet. Und vor sechs Jahren gab es wieder so einen Moment, wo ich dachte, jetzt ist alles sehr stimmig, sehr organisch vom Repertoire her. Ich hatte die Ives-Sonate aufgenommen, eines der größten Werke. Und ich habe mich gefragt, was kommt jetzt noch? Dann kamen plötzlich persönliche und gesundheitliche Brüche und die Pandemie. Und zur selben Zeit hat es sich ergeben, dass ich angefangen habe zu zeichnen und zu improvisieren. Das zeigt: Es eröffnen sich immer wieder neue Möglichkeiten. Man muss nur offen sein.