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Musikgeschichte
Bevor wir vor Gottes Thron treten …
César Franck und Gabriel Fauré verabschiedeten sich ganz bewusst mit letzten Werken von dieser Welt
Von
Matthias Kornemann

César Franck und Gabriel Fauré

Die andächtig hörende oder publizierende Nachwelt pflegt den Rang „letzter Werke“ am Grad des Endgültigen zu bemessen, die sie auszustrahlen scheinen. Nicht selten erliegen wir dabei uneingestandenen Wunschvorstellungen. Dass Mozart mit seinem Requiem seinen eigenen Abschied bewusst auskomponierte, ist so eine Projektion von Generationen. Neben solchen zufälligen „letzten Werken“ stehen die absichtsvoll errichteten großen Denkmäler am Ende der Lebensbahnen wie Bruckners Neunte oder der „Parsifal“, mürbe-großartige Monumentalisierungen eines der ganzen Welt zur Schau gestellten Weltabschieds.

In dem reichen Spektrum letzter Werke finden sich auch demütigere Betrachtungen der eigenen Endlichkeit, kompositorisch-emotionale Gesten eines „Vor-den-Thron-Gottes-Tretens“. Zwei der anrührendsten Beispiele dieser „Gattung“ begegnen uns in der französischen Musik. César Franck und Gabriel Fauré, eigentlich zwei grundverschiedene Naturelle, verabschiedeten sich mit Kompositionen, in denen sich das allmähliche Erkennen und Annehmen der eigenen Hinfälligkeit und Todesnähe in einem eigenartigen Flirren zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Ergebung niederschlägt.

Im Sommer 1890 hatte der überaus rüstige César Franck einen Unfall. Mitten auf einer Pariser Brücke traf ihn die Deichsel eines Pferdeomnibusses in die Rippen. Obwohl er sich scheinbar erholte, schwand die Gesundheit des 68-Jährigen schleichend dahin. Einem seiner Lieblingsschüler soll er gesagt haben: „Bevor ich sterbe, werde ich Orgelchoräle schreiben, wie es Bach getan hat, allerdings nach einem anderen Plan.“ Jetzt, nach dem Unfall, begann er mit dieser Arbeit, als ahnte er den Ernst der Lage, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Das dritte dieser schlicht „Trois Chorals“ betitelten gewaltigen Orgelstücke in a-Moll beginnt auch so, als taste sich Franck ganz allmählich an die Wucht der Todesgewissheit heran. Ganz improvisatorisch beginnt es, mit toccatenhaften Sechzehntelkaskaden, die in dissonanten Akkorden erstarren. Mehr als ein Aufwärmen für den letzten Akt ist es nicht. Wenn dann aber der eigentliche Choral in der phrygischen Tonart erscheint, begreifen wir unmittelbar, dass der Komponist hier die letzten Dinge betrachtet, ohne doch sagen zu können, warum wir uns hier der Sache so sicher sind. In weiteren improvisatorischen Passagen und einem zauberhaften Dolce-­espressivo-Thema scheint Franck noch einmal zurückzublicken in die Welt der Lebendigen, und in einer letzten, sein ganzes Schaffen überwölbenden kontrapunktischen Anstrengung verknüpft Franck diese Themen, schichtet sie und schließt in einer rauschhaften Apotheose des Chorals, deren Gewalt aller Beschreibung widersteht. So markerschütternd und effektvoll diese letzte Kulmination auch ist, geht ihr alle theatralische Schmissigkeit ab, die Franck in früheren Arbeiten nicht fremd war. Die Ausdrucksgewalt dieses Schlusses richtet sich allein an den Gott, an den er so unerschütterlich glaubte. Ein paar Wochen nach der Vollendung starb Franck, die Handschrift zur Regis­trierung am Totenbett.

Gabriel Fauré, mit Franck in freundschaftlicher Kollegialität verbunden, überlebte den Älteren um mehr als drei Jahrzehnte. Es war sein Los, ein noch ungleich komplizierteres Endzeitbewusstsein zu entwickeln. Fauré sah das Ende der Belle Époque, erlebte die Urkatastrophe des Weltkriegs und das Aufkommen der ihn verstörenden musikalischen Moderne. Sein Leben ragte in eine Epoche hinein, die er kaum mehr verstand. Zu diesem Unverständnis mag sein fortschreitendes Ertauben beigetragen haben, verstärkt durch Symptome, die ihn Klänge in grässlicher Verstimmung wahrnehmen ließen. Sein Rückzug aus einer Welt, die die seine nicht mehr war, vollzog sich in zwei Etappen.

Im Januar 1922 verabschiedet sich Fauré mit dem 13. Nocturne vom Klavier. Die Schnur dieser Gattung zog sich durch sein ganzes Leben. Was mit chopinhaftem Salonflitter begann, endet hier in einer Bitternis, die sich in seinem Werk kein zweites Mal in dieser Verdichtung findet und die man kaum erträgt. Das Stück beginnt mit einem Choral, der mit seinen chromatischen Vorhalten und Dissonanzen den dichtesten Bach’schen Choralvorspielen nicht nachsteht. Ein gesanglicheres zweites Thema wächst aus dem Choral hervor und überhaucht die trostlose Grübelei dieses Beginns mit etwas elegischer Mildheit. Der Mittelteil der Komposition aber ist wirklich schauerlich. In manisch sequenzierten Aufschwüngen im Fortissimo kombiniert, ja, zerstört Fauré seine beiden Themen – ein Augenblick individueller Apokalypse, der zusammensinkt in eine blass verhauchende Reprise des Chorals. Ich habe in irgendeiner Studie gelesen, hier blicke der Komponist dem Tod direkt ins Angesicht, und diese etwas pathetische Formulierung trifft den Geist dieses Nocturnes. Es ist Musik, nach der in unserer Vorstellung nichts mehr kommen kann. Aber weder Fauré noch der Tod war bereit.

Als habe er alle Angst abgestreift, machte sich Fauré planvoll an sein Opus ultimum, und mit der Bestimmtheit, mit der Franck Bach als Referenz seiner testamentarischen Gattung bestimmte, waren es bei Fauré Beethoven und das Streichquartett, vor dem er eine „Heidenangst“ hatte, wie er seiner Frau schrieb. Als wollte er den Moment des Endes hinauszögern, arbeitete Fauré mit herausfordernder Langsamkeit. In seinem Sommersitz in Annecy in Savoyen schrieb er im Sommer 1923 das Andante, ein zart-unkörperlicher und doch kontrapunktisch ungemein komplexer Satz – Musik, die schon nicht mehr von dieser Welt ist, in der Art, wie hier Schweres leicht und ätherisch wird. Mit der Gelassenheit eines Menschen, der schon mit einem Fuß im Jenseits steht, ließ er sich ein ganzes Jahr Zeit, um das Werk zu vollenden. Zurückgekehrt in seine Sommerfrische nahe dem Genfer See, vollendete er das Quartett im September 1924. Da konnte er schon nicht mehr selbstständig gehen. Bereits vom Tod gezeichnet, kehrte er nach Paris zurück, wo er kaum zwei Monate später starb. Aber sein Werk endet in dieser serenen Verflüchtigung alles Bitteren, Schweren.

Wie Franck hatte Fauré sich darin noch einmal den großen Schatten und den Scheiternsängsten ausgesetzt und die übermächtige Tradition eines Beethoven abgewälzt. Dieser Akt, der so mühsam war und doch so schwerelos wirkt, ist derartig persönlich, dass es dafür eigentlich gar keiner Zuhörer mehr bedarf. Vielleicht berührt uns diese Musik genau deshalb. Wir sind gar nicht gemeint und wagen kaum zu atmen, während die beiden Meister diese Dinge mit der Ewigkeit ausmachen.

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