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Interview
„Den Werken auf den Grund gehen“
Alfredo Perl nimmt nach rund 30 Jahren zum zweiten Mal alle Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf – und die anderen Werke für Klavier solo ebenfalls
Von
Arnt Cobbers
Foto: Marco Borggreve

Mit großer unabgenutzter Frische, mit äußerster Zärtlichkeit und unaffektierter Brillanz demonstrierte er tröstlich, wie wenig die Tradition erfüllten und erfühlten Beethovenspiels auch in unseren prosaischen Zeiten aufhört.“ Ein schöneres Lob als diese Worte Joachim Kaisers hätte sich der 30-jährige Alfredo Perl wohl nicht wünschen können für seine Beethoven-Gesamteinspielung, die 1995 abgeschlossen war. Dennoch nimmt Perl, der in Santiago de Chile geboren wurde, zum Studium nach Deutschland kam, seit 2007 als Professor in Detmold unterrichtet und 13 Jahre lang auch das Detmolder Kammerorchester leitete, die 32 Sonaten nun ein zweites Mal auf, und dazu sämtliche anderen Werke Beethovens für Klavier solo. Die erste Box mit fünf CDs, den Werken von 1791 bis 1800, ist gerade erschienen. Beim Kaffee in seiner Wahlheimat Berlin zeigt sich Alfredo Perl als angenehmer, wohlüberlegt formulierender Gesprächspartner.

Herr Perl, warum haben Sie Beethoven-Klaviersonaten ein zweites Mal aufgenommen?

Das war eine Entscheidung, die gereift ist. Es begann, wie so vieles, im Jahr 2020. Ich hatte mir nach vielen Jahren wieder die Diabelli-Variationen vorgenommen und wollte sie im Konzert spielen. Dann kam eine Absage nach der anderen und die Erkenntnis, dass die Pandemie noch eine Weile dauern würde. Da erzählte mir meine langjährige Tonmeisterin Renate Wolter, dass auch im Sendesaal Bremen unentwegt Absagen reinkamen. Und da dachte ich, bevor ich jetzt versauere, nehme ich die Diabelli-Variationen auf. Das hat mich sehr motiviert, wirklich dem ganzen Werk noch mal auf den Grund gehen zu können. Ich hab praktisch jeden Takt umgedreht – mit der neuen Ausgabe von Bärenreiter. Das war eine sehr inspirierende Arbeit. Im Herbst 2020 konnten dann ein paar Konzerte stattfinden, und ich hatte eine Anfrage für ein Beethoven-Sonatenprogramm. Ich fand, dass sich auch da einiges neu anfühlte. Ich habe mich also noch mal mit einigen Sonaten beschäftigt, die Pandemie ging ja weiter. Ich dachte mir, ich nehme sie auf, und dann werden wir sehen, was passiert. Ich kam in Kontakt mit dem Label Audite, und irgendwann kam die Idee auf, den gesamten Beethoven aufzunehmen und zu veröffentlichen. Das hat mich so begeistert, dass es mich durch diese Zeit getragen hat und weiter trägt – ich bin ja noch nicht ganz fertig. Einerseits ist mir das Repertoire sehr vertraut, andererseits entdecke ich immer neue Dinge. Die Quellenforschung hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Ich habe gemerkt, ich kann vieles von früher so nicht stehen lassen. Zumindest muss man sich über vieles neu Gedanken machen. Und zum anderen habe ich auch selbst eine Entwicklung durchgemacht. Ich habe inzwischen, mit Ausnahme der Neunten, alle Beethoven-Sinfonien dirigiert. Und ich habe sehr viel Kammermusik gemacht. Das hat mir tatsächlich einen neuen Zugang zu dieser Musik eröffnet.

Die Sonaten machen aber nur ungefähr die Hälfte der Aufnahmen aus. Es gibt noch – ich kann es nicht anders nennen – diese Schatztruhe der unbekannteren Klavierwerke: Aus der Zeit zwischen 1790 und 1800 gibt es mindestens zwölf, dreizehn Variationszyklen, von denen ich immer sage: Wären die für Oboe oder für Geige geschrieben, wären sie Standardrepertoire. Aber weil es die Eroica-Variationen gibt und die Diabelli-Variationen, spielt man sie nicht mehr. Das ist sehr schade. Zumindest sollten sie einfach mal aufpoliert und ins Schaufenster gestellt werden. Und dazu kommen diese bezaubernden kürzeren Werke, die auch nicht unbedeutend sind: die herrlichen Rondos op. 51 zum Beispiel. Das alles in einem größeren Kontext zu sehen, macht schon einen großen Unterschied.

Ist diese Einspielung nun die Frucht Ihrer lebenslangen Beschäftigung mit den Werken – oder sind Sie mit einem ganz frischen Blick neu herangegangen?

Ich habe das Repertoire schon sehr gepflegt, es gab kaum Sonaten, die ich in den letzten Jahren nicht gespielt hätte. Aber durch die Kammermusik gewinnt man einen neuen Umgang mit der Freiheit, sage ich mal. Und man sieht andere Notwendigkeiten. Ich glaube schon, dass es immer noch etwas Neues, etwas Authentisches zu sagen gibt. Nicht in dem Sinne, dass man ein neues Rubato finden würde, das noch niemand ausprobiert hat. Das wurde alles schon durchexerziert. Was mich interessiert, ist die innere Logik des musikalischen Diskurses – die ist ja bei Beethoven so stringent. Seit ich intensiv mit Partnern Kammermusik mache und dirigiere, verspüre ich ein anderes Bedürfnis, mich auszudrücken als dieses individuelle oder individualistische.

Geht das überhaupt, wieder von Null anzufangen?

Naja, das ist eine nette Vorstellung für den Laien. Die vor allem den Eindruck vermittelt, dass man sich ständig damit befasst. Aber ich glaube, dass es andere Entwicklungen sind, die wichtiger sind. Und die liegen auf der menschlichen Ebene, das hat etwas mit der persönlichen Reifung zu tun. Obwohl es natürlich wichtig ist, sich möglichst nah an der ursprünglichen Quelle zu halten, weil es ja letzten Endes um den Willen Beethovens geht. Da wurden früher von den Herausgebern oft Dinge einfach angepasst, weil man dachte, das kann doch nicht stimmen.

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