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Auf Reisen
Die Nummer 1
Antwerpen ist unbedingt eine Reise wert. Etwa um das Antwerp Symphony Orchestra im „Goldenen Saal“ zu erleben. Und bis Januar auch, um in James Ensors Werk einzutauchen
Von
Arnt Cobbers
Antwerp Symphony Orchestra

Die Nummer zwei zu sein ist nicht einfach. Antwerpen hat den zweitgrößten Hafen Europas, weit vor Hamburg. Aber eben nur den zweitgrößten. Antwerpen ist die zweitgrößte Stadt Belgiens, als Großraum eine Millionenstadt. Aber eben nur die Nummer zwei nach Brüssel. Und das kurioseste: Antwerpen ist die größte Stadt Flanderns, doch die Hauptstadt ist wiederum Brüssel, das gar nicht zu Flandern gehört. Womit wir beim traditionell schlecht beleumundeten Belgien sind. Gibt’s da mehr als Pommes frites, Kirschbier und politisches Dauerchaos?

Oh ja! Viel mehr – ganz abgesehen davon, dass die belgische Küche hervorragend ist und das Bier in seinen unzähligen Varianten ebenfalls. Es gab zum Beispiel große flämische Maler wie die Antwerpener Anthonis van Dyck und Peter Paul Rubens, dessen einstiges Wohnhaus sehr sehenswert ist. Und aus dem Gebiet des heutigen Belgien stammen so bedeutende Komponisten wie Johannes Ockeghem und Josquin Desprez, Heinrich Isaac und Orlandus Lassus. Vielleicht erklärt das auch, warum so viele Flamen die Alte-Musik-Szene prägen, René Jacobs etwa und Philippe Herreweghe, Paul van Nevel, Jos van Immerseel oder die Kuijken-Brüder. Nur in klassisch-romantischer Zeit hat das Land außer dem Zufalls-Belgier César Franck keinen bedeutenden Komponisten hervorgebracht. Aber spielen können die Belgier große Symphonik trotzdem!

Sie zweifeln? Dann sollten Sie im November die Gelegenheit nutzen, das Antwerpener Orchester auf seiner Mitteleuropa-Tournee in Salzburg, München oder Bregenz zu erleben, unter der Leitung des Shootingstars Shiyeon Sung und mit den Solisten Mariam Batsashvili, Bomsori Kim und Nikolai Tokarev. Oder, noch besser: Sie fahren einfach mal nach Antwerpen. Es ist nicht weit.

Am besten tun Sie das mit dem Zug. Denn schon die Ankunft ist eine Wucht! Der Antwerpener Hauptbahnhof ist zweifellos einer der schönsten der Welt mit seiner eindrucksvollen Kuppel über der Halle. Treten Sie dann rechts auf den Bahnhofsplatz, so stehen Sie direkt vor dem Eingang zum Zoo. Und sehen gleich daneben die prächtige, an Tausendundeine Nacht erinnernde Fassade des Königin-Elisabeth-Saals, der Heimstatt des Antwerp Symphony Orchestra. Die Lage erklärt sich aus der Geschichte.

Zur Unterhaltung ihrer Mitglieder nämlich gründete die Königliche Gesellschaft für Tierkunde ein Orchester, das seit 1897 das ganze Jahr über im Großen Festsaal des Zoos Konzerte gab. Nach Krieg und Nachkriegsstille wurde 1956 ein neues Symphonieorchester gegründet, „De Philharmonie“, das 1959 statt des abgebrannten Vorgängers einen neuen Konzertsaal erhielt. Hinter der alten Fassade (und damit weiterhin auf Grundbesitz des Zoos!) errichtet, wurde er eröffnet von der musikliebenden Königin Elisabeth (die auch dem bedeutenden Wettbewerb in Brüssel den Namen gab). Das Orchester blühte und gedieh, vor allem unter den Chefdirigenten Philippe Herreweghe (1998-2008) und Jaap van Zweden (bis diesen Sommer immerhin Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker), und so fasste man den Plan, einen wirklich guten Konzertsaal zu errichten. 2016 wurde der neue „Koningin Elisabethzaal“ eröffnet, und der ist in der Tat eine Wucht. Ein Schuhkarton nach Wiener Vorbild und mit golden schimmerndem Eichenholz verkleidet, fasst er 2.000 Zuschauer und wirkt trotz seiner Größe angenehm proportioniert. Und die Akustik ist hervorragend.

Ein solcher Saal ist für ein Orchester mit Ambitionen schon die halbe Miete. Und Ambitionen hat das Orchester, das seit 2016 auch seinen neuen, englischen Namen trägt. „Unsere Mission“, heißt es ganz vorn in der Saisonvorschau, „ist es, ein möglichst breites Publikum durch Konzerterlebnisse auf höchstem Niveau zu berühren und zu inspirieren.“ Klingt pathetisch, ist aber ernst gemeint, wenn man mit den Verantwortlichen spricht. Ich hatte das Glück, Schuberts Große C-Dur-Symphonie unter Leitung von Thomas Dausgaard zu erleben, und der betonte hinterher, wie flexibel und aufmerksam die Musiker seien, die altermäßig gut durchmischt sind. Das Orchester hat einen warmen, runden Klang mit kräftigem Bassfundament und sehr gute Solisten. Und es profitiert von der Arbeit mit den vielen guten Gastdirigenten und Solisten wie Ivor Bolton, Maxim Emelyanichev und Osmo Vänskä, Augustin Hadelich, Christian Tetzlaff oder Steven Isserlis. Die Dirigenten werden derzeit besonders beäugt, schließlich sucht das Orchester einen neuen Leiter als Nachfolger der inzwischen weltweit gefragten Chinesin Elin Chan.

Für ihr Selbstbewusstsein spricht, dass die Musiker sich im eigenen Hause dem direkten Vergleich mit der Spitzenorchestern aus aller Welt aussetzen, zu Gast waren bereits die Wiener Philharmoniker, das Gewandhausorchester, das Symphonieorchester des BR und die Staatskapelle Dresden, um nur ein paar zu nennen. Im Gegenzug gastieren die Antwerpener mehrmals in der Saison in Brüssel, Gent und im Concertgebouw in Amsterdam und nehmen regelmäßig CDs auf, kürzlich erst die Schumann-Symphonien mit Philippe Herreweghe, der nach wie vor oft und gern das Orchester dirigiert.

Eine Reise nach Antwerpen bietet sich in den kommenden Wochen besonders an: Im Museum der schönen Künste (KMSKA) läuft nämlich gerade – und noch bis zum 19. Januar 2025 – eine große und sehr gut gemachte Ausstellung mit Werken des vor 75 Jahren gestorbenen Malers James Ensor. Der hatte mit Antwerpen zwar wenig zu tun, doch verfügt das KMSKA über die größte Ensor-Sammlung weltweit. Unbedingt gesehen haben müssen Sie die Liebfrauenkathedrale mit ihren sieben (!) Schiffen und dem höchsten Turm der Benelux-Länder, wie überhaupt die ausgedehnte Altstadt von Antwerpen wunderschöne Ecken hat und voller Leben ist. Und wenn Sie mal etwas wirklich Kostbares verschenken wollen: Direkt am Hauptbahnhof liegt das Diamantenviertel – Antwerpen ist der bei Weitem größte Handelsplatz für Diamanten in der Welt. Gleich dahinter beginnt das Jüdische Viertel, in dem die größte orthodoxe Gemeinde Westeuropas lebt und man auf der Straße Jiddisch hören kann. Und bevor Sie wieder in den Zug steigen, könnten Sie auch dem Zoo noch einen Besuch abstatten. Der ist immerhin älter als jeder Zoo in Deutschland. Es gibt doch so einiges, in dem Antwerpen nicht nur die Nummer zwei ist.

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