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Musikgeschichte
Ein müder alter Mann
Edward Elgars unfertig gebliebene dritte Sinfonie
Von
Jürgen Schaarwächter

Es war ein verhältnismäßig milder Winterabend, als sich in der Londoner Royal Festival Hall am 15. Februar 1998 ein überaus gespanntes Publikum (inklusive des Verfassers) zusammenfand, um einer verspäteten Uraufführung beizuwohnen: der dritten Sinfonie von Edward Elgar. Dabei hatte sich im Vorfeld der Fokus etwas verschoben – das BBC Symphony Orchestra unter Chefdirigent Andrew Davis gedachte des gerade verstorbenen Michael Tippett, zu dem eine enge Verbindung bestanden hatte. Dennoch triumphierte schlussendlich Elgars Werk. Geoff Hodgkins, ein Mitglied der Elgar Society, erinnert sich: „Es herrschte ein Vorgefühl eines echten Ereignisses. Die Royal Festival Hall war brechend voll, und fast 300 Vereinsmitglieder waren anwesend, von denen einige aus Schottland, Amerika und sogar Australien angereist waren. Das BBC-Orchester und Andrew Davis waren sich auch deutlich bewusst, dass dies kein gewöhnliches Konzert war; die Aufführung hatte eine Schärfe und eine Energie, die bei der ersten (nichtöffentlichen) Aufführung, die ich im Oktober besucht hatte, fehlten. Der Applaus am Ende war ekstatisch; Anthony Payne wurde nach vorne gerufen und musste mehrmals zurückkommen.“

Wir erinnern uns: Nach dem Tod seiner Frau Alice im April 1920 war Elgar zutiefst erschüttert. Sie hatte seine Komponistenkarriere mitunter energisch vorangetrieben, seine Selbstzweifel zerstreut und ihn nicht zuletzt zu Disziplin angehalten. Nach ihrem Tod zog sich Elgar von Hamp­stead nach Worcestershire zurück, um mit seinen Hunden das Leben eines Landedelmanns zu führen, zu Pferderennen zu gehen, Rosen zu züchten oder chemische Experimente durchzuführen. Nur selten reiste er – eine Flugreise nach Paris 1933, um den jungen Yehudi Menuhin im Konzert zu hören und den gelähmten Frederick Delius zu besuchen, war für ihn ein besonderes Erlebnis. In London gab er bis 1932 Konzerte und machte Schallplattenaufnahmen. Das Komponieren geriet in den Hintergrund, auch wenn es nicht zum Erliegen kam. Doch kaum einer Komposition gab Elgar mehr eine Opuszahl – vielmehr finden wir (auch groß angelegte) Gelegenheitswerke, die Musik zum Pageant of Empire etwa, einer Festveranstaltung zur Feier des britischen Empire 1924, aber auch Orchestrierungen von Musik von Bach, Chopin oder Händel. Infolge dieser Kompositionsarbeiten ernannte König George V. ihn zum „Master of the King’s Music“. Das war vor allem ein Ehrentitel, doch Elgar fühlte eine Verpflichtung und kümmerte sich unter anderem um die königliche Musikinstrumentensammlung, die in Ordnung gebracht werden musste, organisierte Konzertbesuche der Königsfamilie und hielt den König über die Entwicklung der Royal Philharmonic Society informiert. Und er schuf weiterhin Festkompositionen: 1929 ein „Carol for the King’s Recovery“, 1931 die „Nursery Suite“ für Orchester für die Prinzessinnen Elizabeth und Margaret sowie deren Mutter und 1932 „Queen Alexandra’s Memorial Ode“ für die Enthüllung des entsprechenden Denkmals gegenüber St. James’s Palace.

1927 komponierte er für das Three Choirs Festival eine „Civic Fanfare“ (die Uraufführung unter Elgars Leitung wurde von His Master’s Voice mitgeschnitten, aber erst posthum veröffentlicht). Zwei Schauspielmusiken („Arthur“, 1923, „Beau Brummel“, 1928) blieben ungedruckt, daneben entstanden Chorlieder, Lieder und Miniaturen für Klavier oder Orchester, die zumeist gedruckt wurden. Anderes, wie das melancholische „Soliloquy“ für Oboe und Klavier (1930), blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht. Sein letztes gedrucktes Werk, die „Severn Suite“ op. 87 für Blechbläser, widmete Elgar 1930 George Bernard Shaw, einem engen Freund der späten Jahre.

Shaw war es auch, der, zusammen mit dem Dirigenten Landon Ronald, der BBC dringend anriet, bei Elgar eine Sinfonie in Auftrag zu geben. Der Auftrag erfolgte 1932, und Elgar begab sich umgehend ans Werk. Sollte sie sein „Werk des Abschieds“ werden? Um seine Gesundheit stand es nicht mehr zum Besten, seine Kräfte hatten nachgelassen – aber in der Konzentration auf die Arbeit trat das in den Hintergrund. War die Wahl der Tonart c-Moll programmatisch zu verstehen – vergleichbar mit Beethovens Fünfter? Oder doch eher mit Brahms’ Aufbruch in neue Gefilde, die der Sinfonie, in seiner Ersten? Hierzu gibt es keine Einlassungen Elgars. Wohl aber können wir die Sinfonie einerseits als eine Summe seiner Fähigkeiten und andererseits als Erkundung von Neuem, für ihn Ungewohntem verstehen.

Mehr als zwanzig Jahre waren seit seiner zweiten Sinfonie vergangen, deren Entstehung – in teils mühsamer Arbeit – drei Jahre gedauert hatte; auch die Komposition seines Cellokonzerts lag mehr als zehn Jahre zurück. Seine Werke begannen aus der Mode zu kommen, eine neue Komponistengeneration war nachgewachsen. Elgar, der weiter am Puls der Zeit zu bleiben versuchte, war sich dessen nur zu sehr bewusst. Kollegen wie John Foulds und Frank Bridge hatten nach 1918 mit ihrem vorherigen Stil vollständig gebrochen, aber die waren mehr als zwanzig Jahre jünger als Elgar; andere hörten auf zu komponieren.

Elgar war sich bewusst, dass er die Partitur möglicherweise nicht vollenden würde, vernichtete die Skizzen aber nicht und machte widersprüchliche Bemerkungen über das unvollendete Werk. William Henry Reed, dem Konzertmeister des London Symphony Orchestra, gegenüber äußerte er: „Lass niemanden daran herumbasteln“, aber zu seinem Arzt sagte er: „Wenn ich die dritte Sinfonie nicht vollenden kann, wird sie jemand anders vollenden – oder eine bessere schreiben.“

Reed war mit Elgar seit 1910 eng befreundet und schon intensiv in die Entstehung des Violinkonzerts involviert gewesen. Elgar hatte ihn ausführlich mit den Skizzen bekannt gemacht und viele der Skizzen mit ihm zusammen durchgespielt, und Reed wusste mehr als jeder andere über Elgars Absichten. Insgesamt entstanden Verlaufsentwürfe, ausgearbeitete Partiturabschnitte und eine Unzahl an kleineren Skizzen, insgesamt rund 130 Seiten. Viele Entwurfsseiten vermitteln klare Vorstellungen zu Motivgestalten oder -verarbeitungen und von Verläufen, und es gab auch vollständig orchestrierte Passagen.

Werk-Gestalt?

Bereits die Eröffnung der Sinfonie zeigt, wie sich Elgars Stil weiterentwickelt hatte. Zwar waren seine Techniken der Materialverarbeitung unverändert, aber nun wagte er sich an harmonische Konzepte und klangliche Texturen, die durchaus neben zeitgleich entstandenen Sinfonien wie Waltons Erster, Vaughan Williams’ Vierter oder Moerans g-Moll-Sinfonie bestehen können.

Es ist schwer, Musik zu beschreiben, die nur bruchstückhaft vorliegt, ohne die „Vollendung“ (in Elgars Worten) durch Anthony Payne (1936-2021) im Blick zu behalten. Ausführlich hat Reed 1936 in seinen Memoiren „Elgar as I knew him“ die dritte Sinfonie vorgestellt – auf nicht weniger als fünfzig Seiten skizziert er den Verlauf, soweit er sich ihm im Austausch mit Elgar erschlossen hatte. Die Veröffentlichung von mehr als vierzig Seiten der wichtigsten Skizzen weckte großes Interesse, entmutigte aber auch, da sich nicht erschloss, wie die Entwürfe verbunden werden sollten. Seit den 1970er Jahren wuchs aber das Interesse an den Entwürfen, und nach ersten missglückten Versuchen begann Payne, Musiker, Musikwissenschaftler und Komponist in Personalunion, 1993 im Auftrag der BBC den Versuch einer Vollendung – noch ehe Elgars Erben ihre Freigabe erteilt hatten.

Die Sinfonie beginnt mit einer schwungvollen Abfolge paralleler offener Quinten und Oktaven (die ersten 17 Takte hat Elgar in Partitur ausgearbeitet), die sich zu einem Marschrhythmus steigern; ein typisches lyrisches zweites Thema, das in einen ersten Durchführungsabschnitt führt, lässt an die früheren Sinfonien denken. Die Wiederholung der Exposition auszuarbeiten, war besonders knifflig, da die „Umschaltstelle“ in die (nicht von Elgar ausgearbeitet hinterlassene) Durchführung in zweierlei Hinsicht funktionieren muss. Ein ruhiges neues Thema für Streicher leitet den Durchführungsteil ein. Nach der Reprise führt die Coda die Hauptthemen zusammen, und der Satz endet mit einem majestätischen C-Dur-Schluss auf der Grundlage des Anfangsthemas. Das Scherzo hatte Elgar in großen Teilen im Particell ausgearbeitet, die Nähe zur leichten Wehmut der „Wand-of-Youth-Suiten“ op. 1a/b ist ebenso offenkundig wie die Distanz zu den Scherzi seiner beiden früheren Sinfonien. Eine leichte Tanzmelodie mit einer prominenten Rolle für das Tamburin wiederholt sich wie in einem Rondo. Es gibt zwei kontrastierende Episoden, von denen die zweite ein „pastorales“ Thema in A-Dur enthält.

Starke harmonische Spannungen verleihen dem langsamen Satz eine besondere Dimension. Elgar hatte zur Eröffnung des Satzes geschrieben, die ersten Takte öffneten „große Bronzetüren zu etwas seltsam Unbekannten“. Hier lagen Payne nur Einzelskizzen vor, die sich aber durch den reichen Skizzennachlass (fast alle eindeutig der Sinfonie zugeordnet), wie Payne es nannte: „fundierte Mutmaßungen“, zu einem Ganzen runden ließen.
Payne beendete den Satz, das stellte er erst später fest, auf den Tag genau sechzig Jahre nach Elgars Tod. Die Auflichtung im Mittelteil des Satzes hat etwas geradezu Magisches, das in der Reprise kongenial mit der Stimmung des Anfangs verschränkt wird. Der Schluss des Satzes, eine kurze Phrase für Soloviola, ist in der Skizze nicht nur mit „Fine“ bezeichnet, sondern auch mit „End“, und so verselbstständigte sich die Legende, Elgar habe hiermit das Ende seines sinfonischen Schaffens betont.

Für das Finale hat Elgar die geringste Anzahl an Skizzen hinterlassen, und auch wenn der Beginn orchestriert vorliegt, hatten Elgars Erben zunächst nicht ihre Zustimmung zur Vollendung des ganzen Finales geben wollen. Da sich die dritte Sinfonie ohnehin stark von Elgars beiden früheren unterscheidet, entschloss sich Payne, wie er schreibt er: „Elgars kreativem Mut treu bleiben zu wollen. Es war nicht einmal sicher, welche Grundstruktur Elgar für sein Finale im Sinn hatte, obwohl ich das Gefühl hatte, dass die Breite des expositorischen Materials in den Skizzen auf eine Sonatenform hindeutete.“ Hier ins Detail zu gehen, würde zu weit führen. Paynes freie Ausarbeitung evoziert jedenfalls „eine strukturelle Ambivalenz, die Elgars symphonischen Gedanken würdig ist“ (Payne), er entwickelte aus den vorliegenden Skizzen neue Gestaltungen. Es gibt zahlreiche für Elgar ganz typische Nobilmente-Passagen, herrlich ausladende lyrische Bögen, und viele Entwürfe deuten die starken und organischen Steigerungen an, die Payne dann ausgearbeitet hat.

So eigentümlich die Sinfonie nun geworden ist – Anthony Payne war ein zu guter Komponist und ein zu sorgfältiger Arbeiter, als dass sein „fundiertes Mutmaßen“ nicht sehr überzeugende Resultate gezeitigt hätte. Wie erwähnt wurde das neue Werk – ein seltener Fall einer rundum gelungenen posthumen Ausarbeitung von sehr Skizzenhaftem – von der Presse sehr positiv aufgenommen und hat sicher weit mehr Elgar in sich, als jede wie auch immer gut gefütterte KI hätte generieren können – gerade Elgars Unberechenbarkeit hat ihn zu einem der wichtigsten britischen Sinfoniker des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts gemacht. Mit der dritten Sinfonie – die, hätte Elgar sie komponiert, die Tonart c-Moll und die Opuszahl 88 erhalten hätte – wird sein Status nochmals gefestigt und gleichzeitig modifiziert.

„Eigenleben“

In der englischsprachigen Welt ist das Werk seither häufiger aufgeführt worden – aber es hat nicht jenen Siegeszug angetreten, den man sich hätte vorstellen können (anders als etwa Mahlers Zehnte, deren Erfolg übrigens nicht zuletzt durch Initiativen der BBC 1960 seinen Lauf nahm). Liegt das daran, dass Elgars Dritte in der klanglichen Faktur so gar nicht den beiden Vorgängersinfonien oder dem Cellokonzert ähnlich ist? Dass Paynes „Ausarbeitung“ sich bescheiden in den Dienst der Skizzen stellt und im Titel auf vollen Anspruch verzichtet? Dabei handelt es sich, wenn man die Partitur studiert, bis ins Detail um echten Elgar, von höchst kompetenter Hand „realisiert“.

Schon die Ersteinspielung – mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung von Andrew Davis 1997 – setzte den Standard. Davis’ Klang ist höchst transparent, vielleicht sogar scharf, was Fragen aufgeworfen hat, ob die Instrumentierung Elgar entspräche. Doch gerade die Stellen, die am stärksten infrage gestellt wurden, sind so von Elgar vorgegeben, nur nicht zu einem Ganzen ausgearbeitet. Bei der Uraufführung war es gerade diese Kühnheit, die das Publikum überraschte und zutiefst beeindruckte.

Innerhalb der folgenden zehn Jahre entstanden fast alle CD-Einspielungen, die heute existieren. Das Bourne­mouth Symphony unter Paul Daniel und auch das London Symphony Orchestra unter Colin Davis bieten Versionen, die weit weniger scharf gezeichnet sind als Andrew Davis’ Lesart – die der Musik vielmehr mehr Raum zum Atmen und zur freien Entfaltung bieten (allerdings mit der Gefahr, dem Rhapsodischen zu erliegen, statt das sinfonische Konzept herauszuarbeiten – ein grundsätzliches Problem beim Sinfoniker Elgar). Fraglos hatte Colin Davis das bessere Orchester zur Hand, auch wenn seine Produktion ein Live-Mitschnitt ist. Ins BBC-Studio kehrte die Sinfonie 1997 unter Richard Hickox zurück, der im Rahmen seiner Elgar-Edition eine ausgesprochen klare und energiegeladene, aber im Vergleich zu Andrew Davis wärmere Einspielung in bestem SACD-Klang vorlegte. Den „rhapsodischen“ Gegenpol produzierte fast zeitgleich Tadaaki Otaka (bis 1995 Chefdirigent jenes Orchesters, das Hickox 1997 dirigierte) in Sapporo, weniger empathisch womöglich, weil das japanische Orchester mit der Musik nicht hinreichend vertraut war?

Seither: Schweigen. Kaum noch Aufführungen, keine weiteren Einspielungen. Man würde sich wünschen, Dirigenten der jüngeren Generationen würden sich des Werks annehmen und der Musik vielleicht abermals ganz neue Facetten entlocken. Und nicht erst anlässlich des nächsten Komponistenjubiläums 2027.

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