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Spurensuche
Eine Gedenktafel für Schönberg
Zwölf Jahre wohnte Schönberg insgesamt in Berlin. Wer die Schauplätze seines Lebens und Wirkens besucht, erlebt eine Überraschung
Von
Matthias Nöther
Foto: Arnold Schönberg Center, Wien

Schönberg mit seinen Berliner Meisterschülern 1926: Josef Zmigrod, Walter Goehr, Walter Gronostay, Winfried Zillig, Erich Schmid, Josef Rufer und Adolph Weis

Die Eisenbahnlinie von Wien über Prag nach Berlin war eine von Künstlern und Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts viel befahrene Strecke. Es kam auch nicht selten vor, dass der Wohnort zwischen beiden Städten im Laufe eines Lebens gleich mehrmals gewechselt wurde. So ging es auch Arnold Schönberg. Insgesamt zwölf Jahre in drei Phasen verbrachte der gebürtige Wiener in der Hauptstadt des Deutschen Reichs, ab 1926 schließlich als renommierter Kompositionsprofessor der Akademie der Künste.
Scott Curry sucht in Berlin schon seit Jahren nach einem Platz für eine Schönberg-Gedenktafel. Curry, der aus Australien stammt, zum Studium nach Berlin kam und seit über dreißig Jahren als Pianist und Chorleiter zum hiesigen Musikleben beiträgt, wohnt in der Augsburger Straße, gleich um die Ecke von der Gedächtniskirche. Dort bezog auch der 27-jährige, frisch verheiratete Arnold Schönberg mit seiner Frau 1902 seine zweite Berliner Wohnung – nachdem er ein Jahr in der Lettestraße 9 (am Helmholtzplatz im heutigen Prenzlauer Berg) gewohnt hatte.

Schönberg war Kapellmeister des „Überbrettl“ geworden, des ersten literarischen Kabaretts in Deutschland. Das residierte in einem vom gefragten Jugendstil-Architekten August Endell umgestalteten Theatersaal in der Köpenicker Straße. Der Innenraum soll, von den Sitzreihen bis hin zu den Schürzen der Programmverkäuferinnen, in „sorgfältig abgestimmten hellen Farbtönen“ gehalten gewesen sein, so recherchierte es das Kuratoren-Team des Arnold-Schönberg-Centers in Wien für eine Ausstellung über Schönberg in Berlin im Jahr 2001. Schönbergs Welt allerdings sei dies nicht gewesen. Bereits im April 1902 bat er einen Wiener Bekannten um Vermittlung einer Stelle, die seine Rückkehr ermöglichen sollte. Das „Überbrettl“ musste bereits ein Jahr später schließen, auch das Haus gibt es nicht mehr. Heute befindet sich dort das Kraftwerk Mitte, ein ehemaliges Heizkraftwerk mit dem legendären Techno-Club Tresor im Keller.

Den besten Ort für eine Gedenktafel fände Scott Curry aber das Haus Augsburger Straße 48. Hier muss Schönberg 1902/03 an den Riesenpartituren seiner sinfonischen Dichtung „Pelléas und Mélisande“ sowie der „Gurrelieder“ gearbeitet haben – wichtige Zeugnisse von Schönbergs frühem, noch vollauf in der spätromantischen Ästhetik verhaftetem Schaffen.

Schräg gegenüber wohnte übrigens seit 1902 Ferruccio Busoni, dessen Nachfolger als Professor an der Akademie Schönberg zwei Jahrzehnte später wurde. Busoni komponierte hier u.a. sein gewaltiges Klavierkonzert, 1911 erstellte er eine „konzertmäßige Interpretation“, ein Arrangement von Schönbergs Klavierstück op. 11 Nr. 2.

An Busonis Haus prangt inzwischen – auf Scott Currys Initiative – eine Gedenktafel. Schönbergs Haus aber gibt es nicht mehr. Selbst der Straßenverlauf ist nicht mehr der originale. „Man hätte etwas anbringen können am ehemaligen Swiss-Hotel“, sagt Curry. „Aber da ist jetzt eine riesige Baustelle – ich habe keinen Platz gefunden.“

1911 kam Schönberg, inzwischen zweifacher Vater, ein zweites Mal nach Berlin. Nach einem Streit mit seinem Wiener Vermieter war er wohl regelrecht geflohen, wie er Busoni in einem Brief schrieb: „Der Gefahr, entweder selbst umgebracht oder wegen Überschreitung der Notwehr eingesperrt zu werden und den damit verbundenen Aufregungen musste ich, nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, mir durch die Behörden oder sogar durch den Revolver Ruhe und Sicherheit zu verschaffen, am vierten August mich durch Flucht mit meiner Familie vorläufig entziehen.“
Die Schönbergs bezogen eine Wohnung in einer Villa in Zehlendorf, doch leider ist das Haus, in dem er u.a. „Pierrot Lunaire“ komponierte, ebenfalls den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen.

Eine Schönberg-Gedenktafel allerdings gibt es in Berlin: dort nämlich, wo der Komponist 1913-15 wohnte – in der Sembritzkistraße 33 in Steglitz. Die Balkone des Vorderhauses sind mit schönen Jugendstil-Eisenelementen versehen, der Garten schön, ruhig und groß. Groß vor allem deshalb, weil von dem Gartenhaus, in dem die Schönbergs wohnten, nur noch die betonierten Umrisse am Boden zu sehen sind.

„Pierrot Lunaire“, das bedeutendste Werk aus Schönbergs zweiter Berliner Zeit, wurde uraufgeführt im Choralion-Saal. Der lag in der Bellevuestraße nahe dem Potsdamer Platz, der in den Bomben des Zweiten Weltkriegs weitgehend unterging. Und was stehen blieb, wurde später abgeräumt. Scott Curry orientiert sich mithilfe eines Stadtplans von 1902. Das alte Haus Nr. 4 stand gegenüber dem Riesenzelt des Sony-Centers. Heute erstreckt sich dort eine grüne Freifläche, auf der Studierende und Touristen picknicken.
War dies auch der Ort, an dem der Hofopern-Kapellmeister Richard Strauss Schönberg erstmals die Gefolgschaft verweigerte? Strauss war ein früher Förderer Schönbergs, 1901 hatte er ihm sogar einen Lehrauftrag am Stern’schen Konservatorium vermittelt. Nach Schönbergs endgültiger Abkehr von der traditionellen Harmonik soll Strauss dann gesagt haben, Schönberg solle, „lieber Schnee schaufeln (…) als Notenpapier vollzukritzeln“. Scott Curry kennt sich mit Schönberg-Anekdoten dieser Zeit gut aus. „Es gibt auch eine Geschichte, dass Puccini von ‚Pierrot Lunaire‘ so verwirrt war, dass er kaum noch komponieren konnte.“

Kein Saal der bedeutenden Schönberg-Uraufführungen dieser Zeit existiert noch in Berlin – auch nicht aus Schönbergs dritter Berliner Phase ab Januar 1926. Allerdings werden hier Schönbergs Berliner Spuren deutlicher. Der ehemalige Archivar der Universität der Künste, Dietmar Schenk, entdeckte in den 1990er Jahren einen kleinen Aushangzettel aus dem Stammhaus der Berliner Musikhochschule in der Fasanenstraße. Darauf kündigte Schönberg einen Kurs „Der musikalische Gedanke“ an. Für den Archivar kam das unerwartet, schließlich hatte Schönberg formal mit der Hochschule gar nichts zu tun. Vielmehr war er 1925 an die Preußische Akademie der Künste berufen worden, um als Nachfolger Busonis eine Meisterklasse für Komposition zu leiten. Allerdings mit dem Vorrecht, bei sich zu Hause zu unterrichten, wie es schon Busoni getan hatte.

Schönberg allerdings zog mehrfach um, wohnte länger nur in der Nussbaumallee im Westend und in einem Hotel am Nürnberger Platz – beide Häuser wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Und er hielt sich oft und zum Teil über Monate hinweg im Ausland auf.

Kompositorische Schwergewichte wie Anton Webern und Alban Berg in seiner Wiener Zeit finden sich unter Schönbergs Berliner Schülern nicht. Die bekanntesten Namen sind Winfried Zillig, ein später namhafter Musiktheoretiker, Josef Rufer, später als Musikwissenschaftler renommiert, und vor allem der Grieche Nikos Skalkottas.
Dieser quasi private Kompositionsunterricht auf Basis einer staatlichen Professorenstelle war eine Berliner Eigenheit, sagt UdK-Archivar Dietmar Schenk. Diese „ausgesprochen günstigen Konditionen“ seien schon in der wilhelminischen Zeit  „ein Vehikel gewesen, um namhafte Komponisten an Berlin zu binden“ – zum Beispiel Engelbert Humperdinck. Und der kulturpolitische Luxus der Meisterklassen wurde auch in der Weimarer Republik nicht beschnitten. Im April 1932 teilte die Akademie der Künste dem Kulturministerium übrigens mit, dass in Schönbergs Klasse wegen dessen langer Abwesenheit nur noch ein Schüler eingeschrieben sei.

Zu Schönbergs Berlin-Biografie gehört allerdings auch, dass er den aufkommenden Antisemitismus der späten 1920er Jahre aus nächster Nähe mitbekam – wobei er bereits 1921 mit seiner Familie im salzburgischen Ferienort Mattsee aufgefordert worden war, den Ort zu verlassen, Mattsee sei „judenrein“.

Zwar hatte Schönberg noch 1926 seinen Diensteid als Angehöriger der „evangelischen Religion“ geleistet, doch wandte er sich immer mehr jüdischen Themen zu. 1926/27 schrieb er das Schauspiel (ohne Musik) „Der biblische Weg“, in dem er sich intensiv mit jüdischer Politik und jüdischem Glauben auseinandersetzt. Dann begann er mit der Komposition seiner letzten, hochabstrakten Oper „Moses und Aron“, die zweiaktiges Fragment geblieben ist. Im kalifornischen Exil machte Schönberg zwar noch Skizzen zum dritten Akt – jedoch blieb dieses Opus magnum weitgehend eine Berliner Komposition, ebenso wie u.a. das dritte Streichquartett (1927) und die Orchestervariationen (1928).
Schönberg, so konstatiert Schenk, sei in dieser späten Berliner Zeit „schon auf einem anderen Trip“ gewesen – was offenbar auch im preußischen Kultusministerium mit Argwohn gesehen wurde. Auch Leo Kestenberg, der bedeutende Musikreferent im Ministerium, dem Schönberg im Endeffekt seine Berufung nach Berlin verdankte, habe Schönbergs Umtriebe außerhalb seiner Lehrverpflichtungen mit einiger Skepsis betrachtet. „Die Ars speculativa des Klangs wird immer einsamer“ – diese sarkastische Anmerkung Kestenbergs über Schönberg hat Schenk ebenfalls im UdK-Archiv gefunden.
Arnold Schönberg, wie übrigens auch Leo Kestenberg, verließ Berlin 1933, unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. In den großen Konzert- und Opernhäusern der deutschen Hauptstadt hat sein Werk definitiv mehr Spuren hinterlassen als im Berliner Stadtbild. Aber das ist besser als umgekehrt.