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Porträt
„Es geht ums Überleben“
Raphaela Gromes hat Dvořáks Cellokonzert und Werke ukrainischer Komponisten mit dem Ukrainischen Nationalorchester aufgenommen
Von
Aufgezeichnet von Arnt Cobbers
©MichaelaWeber.ch

Starcellistin nimmt Dvořák auf – das klingt nicht spektakulär. Doch die Geschichte hinter dem neuen Album von Raphaela Gromes ist alles andere als gewöhnlich. Weil beim Treffen am Rande von München wenig Zeit war, „sprudelte“ sie tatsächlich „wie ein Wasserfall“, wie sie es in einer Mail hinterher selbst nannte. Fragen waren kaum nötig. Dass das Projekt keine Marketingaktion ist, sondern ihr wirklich am Herzen liegt, wurde sofort deutlich. Auch musikalisch ist das Album gelungen, wie die Rezension auf S. 66 zeigt.

Ich war am 24. Februar 2022, wie wahrscheinlich fast alle, sehr schockiert, weil mir die russische Kultur so nah ist durch die Musik und die Literatur, und dachte, das kann doch nicht sein, dass die Russen nun tatsächlich in die Ukraine einmarschieren. Ich bin gleich auf einige Friedensdemos gegangen und war extrem berührt und beeindruckt vom Engagement der Ukrainerinnen und Ukrainer, ihr Land zu retten und für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Dann habe ich das Ukrainische Nationalorchester bei einer Tournee gehört und sie nach dem Konzert angesprochen. Ich war sehr berührt von dem, was sie mir erzählt haben, und sagte, ich komme gern jederzeit nach Kyjiw, einfach aus Solidarität, um dort für die Menschen zu musizieren und um ihnen zu zeigen, dass wir da sind und an sie denken. Der Intendant des Orchesters hat sofort gesagt: Gern, machen wir einen Termin aus! Und kurz vor Weihnachten 2023 hat es endlich mit einem gemeinsamen Konzert in Kyjiw geklappt.

So hat meine Verbundenheit mit der Ukraine begonnen. Ich habe viel mit den MusikerInnen während der Probenarbeit gesprochen, ein Kameramann hat mich während der ganzen Zeit in Kyjiw begleitet, mit dessen Familie ich bis heute fast täglich in Kontakt bin. Wir haben in SOS-Kinderdörfern gespielt und haben Geschichten von ihren Eltern gehört, die im Krieg gefallen oder an der Front sind. Auch in den Cafés oder auf den Straßen spürt man die große Verbundenheit der Menschen untereinander, weil jeder weiß: In der nächsten Sekunde kann eine russische Bombe fallen. Es ist eine unglaublich solidarische, herzliche Stimmung, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe. Und die Leute freuen sich und sind dankbar für den Besuch, weil es ihnen zeigt, dass man sie nicht vergessen hat.

Nach dem Konzert haben Menschen Geschenke auf die Bühne gebracht. Eine Frau hat mir selbstgestrickte Handschuhe gegeben, sie sagte, das sei alles, was sie jetzt dabeihabe, und sie müsse sie mir jetzt aus Dankbarkeit schenken. Ein Soldat hat mir ein Abzeichen geschenkt, das er selbst bekommen hatte und das mich nun beschützen soll. Es gibt eine kurze Dokumentation von meinem Besuch in Kyjiw, die man auch auf YouTube sehen kann und wo auch diese Momente festgehalten sind...

Durch die bewegenden Erlebnisse und das intensive Konzert entstand der gemeinsame Wunsch, eine Aufnahme zu machen – noch vor Ort haben wir Sony angerufen und sie haben sofort zugestimmt.

Es war klar, dass die Aufnahme nicht in Kyjiw stattfinden konnte, weil es da dauernd Bombenalarm gibt und auch mein Cello im Kriegsgebiet nicht versichert ist. Also haben wir es auf den Februar in Polen verlegt. Das Orchester war vorher auf Tournee in Amerika und auf dem Weg zurück haben wir uns in Lublin in der Philharmonie getroffen. Das ist ein wunderschöner Saal mit einer tollen Akustik. Beste Voraussetzungen eigentlich, außer dass der Flug aus den USA verspätet kam und alle Jetlag hatten. Und die Fluggesellschaft hatte die Celli unterwegs verloren, sodass wir in letzter Minute von polnischen KollegInnen Celli ausleihen mussten.

Gleichzeitig war die Situation in der Ukraine noch mal schlechter geworden. Man hat die große Angst gespürt, die die Musikerinnen und Musiker hatten – um die Menschen zu Hause, aber zum Teil auch davor, zurückzukehren. Alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind militärpflichtig. Die Musiker des Nationalorchesters sind davon befreit, damit sie die ukrainische Kultur aufrechterhalten können, aber das gilt immer nur für sechs Monate, und die Befreiung war gerade ausgelaufen. Die Regierung ist inzwischen verzweifelt, weil es nicht genug Menschen gibt, die kämpfen, und tatsächlich haben einige Musiker die Verlängerung nicht bekommen und mussten an die Front. Wir gehen ja im November zusammen auf Tournee, und seit Juni wissen wir, dass alle Musiker, die noch dabei sind, ausreisen dürfen. Aber es herrscht ein Riesendruck.

Ich weiß, ich sollte eigentlich über Dvořák sprechen, aber mich berührt das so, dass ich einfach darüber sprechen muss: Jeder hat dort jemanden verloren, einen Bruder oder einen besten Freund. Jeder kennt Geschichten, wie Männer zum Militär abkommandiert oder auf offener Straße eingezogen wurden, ohne sich davor zu Hause verabschieden zu können.

Leider ist auch die Stimmung in der Ukraine mittlerweile gekippt. Diese Anfangseuphorie, dieses Gefühl: „Wir schaffen das!“ ist weg. Die Unterstützung des Westens ist nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten und ihnen versprochen wurde, sie haben nicht genug Waffen, sie haben nicht mehr genug Leute, mittlerweile ist die Verhandlungsposition eigentlich schlechter als zu Anfang des Krieges, und ich glaube, viele können sich nicht mehr vorstellen, wie ein Frieden aussehen soll. Mittlerweile herrschen die Toten und das Leid vor. Die ukrainischen Menschen sehen ihr Land sterben, und das tut irrsinnig weh. Die Aufnahmen waren auch deshalb sehr emotional. Diese Verzweiflung, der Schmerz, aber auch die Hoffnung, das alles floss quasi ungefiltert in die Musik ein und führt, glaube ich, tatsächlich zu einer noch ausdrucksvolleren Aufnahme, ganz besonders natürlich beim „Prayer for the Ukraine“ von Valentin Silvestrov und Hanna Havrylets „Tropar“. Das waren unglaubliche Augenblicke, da haben viele geweint, als wir das gespielt haben, ich auch. Wir hatten den Silvestrov in Kyjiw als Zugabe gespielt, und im Dezember herrschte wirklich noch Hoffnung, man spürte dieses gemeinsame Atmen, dieses gemeinsame Beten im Raum.

Schon im Februar hatte sich die Situation der Ukraine leider sehr verschlechtert. Dieses Gefühl, dass die Hoffnung wahrscheinlich nicht berechtigt gewesen war, tat wahnsinnig weh, das war vermutlich eine der berührendsten, aber auch beklemmendsten Erfahrungen meines Lebens. Ich glaube, dadurch ist die Musik auch besonders stark geworden, weil sich das transportiert hat.

Natürlich kann man das Ukrainische Nationalorchester nicht mit den Berliner oder Wiener Philharmonikern vergleichen. Aber es ist ein sehr gutes Orchester. Dvořák ist schon hundertmal eingespielt worden, auch schon richtig gut. Da braucht man schon eine Idee, warum man das jetzt noch mal aufnehmen will. In diesem Fall war es wirklich so, dass für mich die Solidarität mit der Ukraine im Vordergrund stand und ich dieses Konzerterlebnis in Kyjiw irgendwie festhalten und an die Menschheit weitergeben wollte. Mit einem anderen Orchester wäre es einfach nur eine weitere Aufnahme des Cellokonzerts von Dvořák geworden.

Es gibt von Dvořák weitere wunderschöne Stücke für Cello und Orchester, das Rondo oder „Waldesruhe“, aber ich wollte ja etwas anderes mit dieser Aufnahme in den Fokus rücken und kam dann auf die Idee, ukrainische Stücke aufzunehmen. „Prayer for Ukraine“ von Silvestrov erschien mir nicht nur musikalisch, sondern auch von der Aussage her sehr passend. Das hatte ich ja auch als Zugabe für Kyjiw ausgewählt. Und ich wollte auch eine Komponistin auf dem Album haben – das ist mein anderes großes Thema: Frauen in der Musik. Ich habe mich an das Archiv Frau und Musik in Frankfurt gewendet, weil meine erste Recherche im Internet nichts ergeben hatte, und bin so auf Hanna Havryletz gekommen. Ihr „Tropar“ ist ein Friedensgebet, sehr melancholisch und sehr dicht, und hat mich sofort angesprochen. Hanna Havryletz hatte einen Lehrstuhl für ukrainische Musik und ist zu Beginn des Angriffskrieges gestorben, weil sie ärztlich nicht versorgt werden konnte. Das ist auch so eine tragische Geschichte, wie man sie in der Ukraine ständig hört...

Noch in Kyjiw habe ich außerdem Volodymyr Sirenko, den Chefdirigenten des Nationalorchesters, nach weiteren ukrainischen Stücken gefragt. Schon am nächsten Tag hat er mir ein von Hand beschriebenes Notenblatt in die Hand gedrückt und gesagt: Ich hab ein Stück für dich. Das war „We Are“, eine Paraphrase der ukrainischen Nationalhymne von Yuri Shevchenko. Da war ich mir erst mal nicht so sicher. Aber ich habe es dann gespielt und mir den Text angeguckt und war ein bisschen schockiert – weil es da heißt: Noch ist die Ukraine nicht gestorben. Die Ukrainer feiern da nicht ihre große Nation wie andere, sondern wollen einfach nur frei sein. Das hat mich so berührt, dass ich gedacht habe: Das kann ich aufnehmen – abgesehen davon, dass die Melodie einfach wunderschön ist und Julian Riem sie extra für uns für Cello und Orchester arrangiert hat.

Und auf das letzte Stück kam ich an Silvester: Ich bin ja immer noch in Kontakt mit vielen in der Ukraine, ich habe immer noch nicht die App gelöscht, die die Bombenalarme gibt, das versetzt mir jedes Mal einen Stich ins Herz und ich schaue, ob einer unserer Freunde bedroht ist. Und so habe ich mitbekommen, dass es zu Silvester natürlich kein Feuerwerk gab, sondern dass alle um null Uhr die Fenster geöffnet und „Chervona Kalyna“ gesungen haben, übersetzt „Roter Schneeball“, eine Pflanze. Dieses Lied ist mittlerweile das Symbol für die Resilienz und Stärke der Ukrainer geworden, das Volk singt es, um die Moral der Armee damit aufrechtzuerhalten. Es gibt sogar eine Version von Pink Floyd, die viral gegangen ist. Aber ich dachte mir, nach all den traurigen Stücken – auch der Dvořák ist ja ein sehr tiefes, ernstes Stück – wäre ein irgendwie positiver Abschluss, etwas, was auch Hoffnung bringt und einen lächeln lässt, schön. Mein Pianist Julian Riem sagte: Das ist ein Volkslied, das ist nur eine Melodie ohne Begleitung, wie stellst du dir das für Orchester vor? Ich habe gesagt: Keine Ahnung, wie ich mir das vorstelle. Aber ich weiß, du kannst das. Dann hat er sich hingesetzt und mehrere Fassungen gehört und es letztlich sehr cool arrangiert. Tatsächlich war das Orchester sogar sehr dankbar, dass ich mich so intensiv mit der ukrainischen Kultur. beschäftigt habe Allerdings waren sie anfangs nicht ganz zufrieden, wie ich ihre Werke gespielt habe, und haben mit mir gearbeitet. Beim Dvořák gingen die Impulse in der Probenarbeit von mir aus, das ist ja letztlich ein sehr kammermusikalisches Stück, das auch davon lebt, dass es wirklich miteinander empfunden wird und alles ineinandergreift. Bei „Chervona Kalyna“ haben sie mir dafür ein bisschen meine Leichtigkeit und Virtuosität ausgetrieben und gesagt, dass es mit mehr Ernst und Kraft gespielt werden muss, wie ein Militärmarsch – da geht es um unser Überleben. Und schließlich habe ich es so gespielt, dass sie mit mir zufrieden waren. So war das wirklich ein lebendiger Kulturaustausch.

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