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Porträt
Hören ohne Geländer
Dem Komponisten Charles Ives zum 150. Geburtstag
Von
Stefan Litwin
Foto: Clara Sipprell

In diesem Land lebt ein großer Mann – ein Komponist. Er hat das Problem gelöst, wie man sein Selbstwertgefühl bewahren kann. Auf Nichtachtung antwortet er mit Verachtung. Er ist nicht gezwungen, Lob oder Tadel anzunehmen. Sein Name ist Ives.“ Mit dieser im Nachlass gefundenen Notiz charakterisierte kein geringerer als Arnold Schönberg den gleichaltrigen amerikanischen Kollegen und projizierte damit auf ihn vielleicht auch die eigene Frustration mit der jahrzehntelang erfahrenen öffentlichen Ablehnung seiner Musik.

Beiden gemeinsam war der radikale Schritt in die Pantonalität, den sie unabhängig voneinander fast zeitgleich vollzogen. Inspiriert durch die Schriften der amerikanischen Transzendentalisten meinte Ives, durch die Auflösung der Tonalität sich in Richtung einer neuen universellen Sprache zu bewegen. Das Hören könne, ja müsse trainiert werden, denn wie die Körpermuskeln würde es sonst bei Unterforderung verkümmern. So diagnostizierte er beim Publikum eine Tendenz zur „Verweichlichung“, empfahl, Dissonanzen aushalten zu lernen, und meinte überdies, dass die beste Zeit der Musik in der Zukunft läge, wenn die Dominanz der europäischen Tradition mit all ihren akademischen Regeln und Einschränkungen endlich überwunden sei.

Nach Beendigung eines regulären Kompositionsstudiums an der Yale University entschied Ives, seinen Unterhalt nicht von der Musik abhängig zu machen, sondern als Geschäftsmann im Versicherungswesen sein Geld zu verdienen. Damit folgte er einem Rat des Vaters: „Wer vom Musikmachen lebt, muss komponieren, was das Publikum hören will. Verdiene deinen Lebensunterhalt in anderer Weise. Dann kannst du komponieren, was du hören willst.“ Als wohlhabender Freizeit-Komponist also, der abends bis spät in die Nacht, an Wochenenden und in den Ferien an seinen Partituren arbeitete, schuf Ives eine Fülle an Liedern, Orchester-, Kammermusik- und Solowerken, die in ihrer ganzen Bandbreite nur schwer zu kategorisieren sind.

Mit polytonalen, polyrhythmischen und mikrotonalen Experimenten, mit fast unspielbaren Ins­trumentalpassagen – „Ist es etwa der Fehler des Komponisten, dass der Mensch nur zehn Finger hat?“ – und utopischen Formen überschritt Ives, was bis dahin in Musik als überhaupt denk- und hörbar gegolten hatte. Etwa in der nie vollendeten „Universe Symphony“, einer hochkomplexen Partitur, die von mehreren Orchestern unter freiem Himmel auf Bergen und in Tälern aufgeführt werden sollte. Mit gleicher Begeisterung widmete er sich der vermeintlich „niederen“ Kunst, schrieb Ragtimes, Cabaret-Songs und Kinderlieder, zitierte afroamerikanische Gesänge und immer wieder Beethovens Fünfte als Symbol des Idealismus. Er vereinte in seinen Kompositionen das scheinbar Unvereinbare, verband mit Montagetechniken die unterschiedlichsten Genres und nahm damit schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts jene Ästhetik vorweg, die 70 Jahre später als „postmodern“ Schule machen sollte.

Und doch war Ives ein entschiedener Modernist. Die Kriterienlosigkeit eines postmodernen „Anything Goes“ hätte er strikt abgelehnt. Wie Gustav Mahler verfremdete er die tradierte Sprache, setzte wie jener die Kategorie des Durchbruchs ein, um die transzendente Dimension von Musik erfahrbar zu machen, und verstand seine Kompositionen als Ausdruck einer Weltanschauung. Bei aller Experimentierfreude und Zukunftsorientierung jedoch verwarf er nie den spätromantischen Gestus des 19. Jahrhunderts, bettete die radikalen Neuerungen vielmehr in eine vertraute Klangwelt ein, und schuf so ein Oeuvre, das auch für Hörer zugänglich bleibt, die an avancierter Musik nicht geschult sind.

Die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Ives‘ Kompositionen verlangen für ein tieferes Verständnis dennoch ein neues Hören. Manches, was wie ein Zitat klingt, ist es nicht, und anderes, was wie originäre Erfindung wirkt, ist Zitat. Diese Umkehrung in Verbindung mit einer oftmals frei-assoziativen Form zwingt Interpreten wie Hörer, sich selbständig und individuell im komplexen Geflecht des Notensatzes zurechtzufinden.

Vielleicht ist gerade dieser Aspekt einer der modernsten bei Ives: dass es nämlich für seine Werke nicht nur eine, die richtige Hörweise und dementsprechend auch keine eindeutige und zwingende Lesart gibt. In der zweiten Klaviersonate „Concord, Mass., 1840-1860“ beispielsweise darf, ja soll die jeweilige Befindlichkeit des Pianisten direkten Einfluss auf die klangliche Darstellung nehmen. Zwei identische Aufführungen sind keinesfalls gewollt. Zudem enthält die Partitur nur wenige Taktstriche, suggeriert damit eine freie Agogik, die sich auch nach der jeweiligen Tagesform des Interpreten richten kann. Damit bewahrt jede Aufführung die Aura des Einmaligen und macht die auf Tonträgern verewigten Interpretationen fragwürdig, denn auf Perfektion und Nachhaltigkeit getrimmte Studioproduktionen widersprechen schlicht der kompositorischen Idee.

In der europäischen Tradition definierte die Partitur bekanntlich von jeher den Rahmen, innerhalb dessen die interpretatorische Freiheit – will sie nicht der Willkür Tür und Tor öffnen – ihren Raum hat. Dieser Rahmen ist bei Ives durchlässiger. So lädt das Notenbild vieler seiner Werke dazu ein, bei der Realisierung nicht buchstabengetreu oder gar mechanisch vorzugehen, sondern den „Geist“ der Musik zu erfassen und ihn aus eigener schöpferischer Kraft zum Leben zu erwecken. Das geht so weit, dass etwa im „Hawthorne-Satz“ der Concord-Sonate der Pianist explizit dazu ermutigt wird, möglichst rasche Tempi zu wählen, auch wenn dabei falsche Noten gespielt würden. Der Charakter sei das Entscheidende.

Freilich forderte auch Schönberg vom Interpreten, den komponierten „Sinn“ seiner Werke zu erkennen und diesen in instrumentaltechnische Korrelate umzusetzen, und auch ihm schwebte eine flexible agogische Darstellungsweise vor. Doch hat Schönberg seine Partituren so akribisch genau notiert, dass die Grenzen der subjektiven interpretatorischen Freiheit viel enger gezogen sind. Ives hat mit seinem großzügigeren Ansatz auch Eigenschaften des „offenen Kunstwerks“ antizipiert, und zwar nicht nur in Bezug auf die klangliche Realisierung der Partitur. Denn bereits die Niederschrift des musikalischen Gedankens war bei ihm ein komplexer kompositorischer Vorgang.

Davon zeugen die höchst unterschiedlichen Fassungen vieler seiner Werke. Er überarbeitete die Partituren unentwegt, setzte auch noch nach Jahren weitere Noten hinzu und näherte sich so sukzessive einer immer genaueren Darstellung der ursprünglich vorgestellten musikalischen Idee. Selbst die Publikation einer Partitur bot seiner wuchernden Phantasie nicht Einhalt – die Jahrzehnte nach der ersten erschienene zweite Fassung der Concord-Sonate entspricht an manchen Stellen geradezu einer Neukomposition.

Auf der Suche nach einer immer profunderen Wahrheit berief er sich nicht zuletzt auf die Tradition des Transzendentalismus. Von dessen prominentestem Vertreter Ralph Waldo Emerson wurde berichtet, dass er in seinen Vorträgen, wenn es der Moment verlangte, vom geschriebenen Text abwich, um in zum Teil langen Abschweifungen neue Erkenntnisse zu entwickeln. Von ähnlich zentraler Bedeutung ist das Prozesshafte des sich eben formenden Gedankens bei Ives. Der Verlauf seiner Musik lässt sich nur selten voraussagen und entspricht eher dem, was „Stream of Consciousness“ genannt wird. Das stellt Interpreten wie Hörer vor besondere Schwierigkeiten.

„Hören ohne Geländer“, wäre eine Abwandlung von Hannah Arendts bekanntem Diktum, die diese Schwierigkeiten umschreibt. Sich dem Fluss der Musik anvertrauen, ohne stets zu wissen, wo man sich formal befindet und was die Töne einem „sagen“, das Rätselhafte als eigenen Reiz zulassen und mit alledem nicht nur das Hören, sondern auch das Bewusstsein erweitern – das hieße Ives verstehen und seiner Musik gerecht zu werden.

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