Der Kuckuck (Cuculus canorus) aus Naumanns „Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas“ von 1905
Bei einem Spaziergang durch Wien horcht Wolfgang Amadeus Mozart am 27. Mai 1784 plötzlich auf: Da pfeift ein Star, den ein Vogelhändler feilbietet, eine Melodie aus seinem taufrischen Klavierkonzert KV 453! So will es jedenfalls die Legende. Belegt ist: Mozart kaufte an jenem Tag einen solchen Vogel, für 34 Kreuzer, so hat er es in seinem Ausgabenbuch verzeichnet. Und fest steht auch, dass Mozarts Star tatsächlich die ersten Takte des Schlusssatzes aus dem G-Dur-Konzert pfeifen konnte, wenn auch mit einer falschen Note, einem gis anstelle von g. Die Version des „Vogel Stahrl“ hat Mozart nämlich in ebenjenem Ausgabenbuch, nebst seiner eigenen, ebenfalls notiert, mit dem Zusatz „Das war schön!“.
Einem Imitationskünstler wie dem Star, der gerne die Stimmen anderer Vögel, aber auch Hundegebell oder in heutiger Zeit Handyklingeln oder die Alarmanlage eines Autos in seinen Gesang einbaut, fällt es nicht schwer, eine kurze Melodie zu lernen. Welche Spuren aber mag der Piepmatz in Mozarts Oeuvre hinterlassen haben? Darüber hat die amerikanische Naturphilosophin und Schriftstellerin Lyanda Lynn Haupt nachgedacht, während sie, ihren eigenen handaufgezogenen Star namens Carmen auf der Schulter, das Buch „Mozart’s Starling“ schrieb. Das Verhaltensforscher-Ehepaar Meredith J. West und Andrew P. King hatte schon 1990 im Sextett „Ein musikalischer Spaß“, das üblicherweise als Parodie auf dilettantische Komponistenkollegen verstanden wird, eine Hommage an den kurz zuvor verstorbenen Vogel ausgemacht: „Unsaubere“ Töne, Melodien, die an unerwarteten Stellen abbrechen, Phrasen von unklarer Struktur, schließlich das unerwartete Ende, all das sei charakteristisch für Stare.
Lyanda Lynn Haupt geht noch weiter: Auch wenn die Musikforschung bisher erfolglos war mit der Suche nach weiteren Star-Kompositionen in Mozarts Oeuvre, ist sie davon überzeugt, dass aufmerksame Hörer die Kapriolen des Vogels überall in den späteren Werken erspüren können. Nicht zuletzt in der Figur des Papageno.
Wie dem auch sei: Vögel haben Komponisten über die Jahrhunderte hinweg inspiriert, ob sie nun selbst zahme Exemplare ihr Eigen nannten, wie Bach, Telemann, Rameau, Haydn, Wagner, oder nicht. Ohnehin kommt Vögeln in der Kunst eine besondere Bedeutung zu. In der christlichen Ikonografie ebenso wie in vielen anderen Kulturen gelten sie als Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen, als Symbol der Transzendenz, häufig auch als Verkörperung von Weisheit. Ihr oft farbenfrohes Gefieder, ihre Fähigkeit zu fliegen, das bis heute nicht restlos gelöste Rätsel des Vogelzugs machten sie zum Faszinosum. Und natürlich, gerade für Komponisten, ihr Gesang: komplex, variantenreich, vielfach als melodiös empfunden. Und oft relativ leicht musikalisch nachzuahmen. Das führte gerade in der Zeit des Barock, als Naturimitation hoch im Kurs stand, zu einer wahren Flut an Vogel-Kompositionen.
Der erste Vogel, der durch die Musikgeschichte flattert, ist der Kuckuck: Schon im Kanon „Sumer is icumen in“, Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden und vermutlich die älteste überlieferte mehrstimmige Komposition überhaupt, ist sein Ruf zu hören, wenn auch in abgewandelter Form. Seit dem ausgehenden Mittelalter und der Zeit der Renaissance erschallt die typische fallende kleine Terz, die sich als musikalischer Ausdruck des Kuckucksrufs etabliert hat, häufig in Liedern, später auch in Musik für Tasteninstrumente, Sinfonien, Kammermusik, Opern. (In der Natur intoniert der Kuckuck übrigens oft auch die große Terz, manchmal sogar eine Sekunde oder Quarte.)
Eine keineswegs vollständige Liste bei Wikipedia führt 66 Werke zum Thema „Kuckuck“ auf. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ sind natürlich darunter, in denen der Kuckucksruf die drückende Schwüle des Sommers durchbricht; Camille Saint-Saëns‘ „Kuckuck in der Tiefe des Waldes“ – der tatsächlich die große Terz ruft – aus dem „Karneval der Tiere“; oder die atmosphärische Tondichtung „On Hearing the First Cuckoo in Spring“ von Frederik Delius, die das Bild dieses Vogels als Frühlingsbote aufgreift.
Häufig regt der Kuckuck zu lustigen musikalischen Spielereien an wie im Falle von Girolamo Frescobaldis kurzweiligem Orgelstück „Capriccio sopra il cucco“, erschienen 1524: Innerhalb von kaum sieben Minuten ertönt der Kuckucksruf rund 80 Mal. Oder Johann Jakob Walther, ein Großmeister des deutschen Violinspiels im 17. Jahrhundert, der einem seiner „Scherzi da Violino solo con il basso continuo“ den Titel „Imitatione del Cuccu“ gegeben hat. Und sogar, wer hätte es gedacht, Johann Sebastian Bach in einer Klaviersonate, BWV 963: Der abschließende Fugensatz trägt den Titel „Thema all’ Imitatio Gallina Cuccu“ und präsentiert einen Wettstreit zwischen einem gackernden Huhn und dem lauthals rufenden Kuckuck.
Dessen Gegenspieler ist ansonsten oft die Nachtigall. Steht der Kuckuck schon im Mittelalter für Untreue, Hinterlist, gar für den Teufel, so verkörpert die Nachtigall Reinheit und Liebe. Sie wird als einer der wenigen Vögel, die auch nachts singen, zur Zeugin heimlichen Stelldicheins und stellt mit ihren Gesangskünsten, so zumindest das vorherrschende Bild, alle anderen gefiederten Sänger in den Schatten. Wer zum ersten Mal eine Nachtigall hört, dürfte unter ästhetischen Gesichtspunkten enttäuscht sein, aber beeindruckend ist die durchdringende Stimme dieses unscheinbar graubraunen, gerade einmal sperlingsgroßen Vogels schon. Und auch der Variantenreichtum ihres Gesangs: Mehr als 250 unterschiedliche Strophentypen haben manche Nachtigallen-Männchen im Repertoire, mit denen sie tagsüber ihr Revier abstecken und nachts um Weibchen werben; oft mit langgezogenen, weichen Pfeiftönen, die auf menschliche Zuhörer wehmütig und „romantisch“ wirken (vielleicht auf die Nachtigallen-Weibchen auch, wer weiß…).
Aus den unzähligen Nachtigallen-Kompositionen zwischen Renaissance und Gegenwart seien nur zwei herausgegriffen: Mit verblüffend realitätsnahem Ergebnis erkundet der blinde niederländische Kirchenglocken-Sachverständige und Blockflötenvirtuose Jacob van Eyck in dem Variationensatz „Engels Nachtegaeltje“, erschienen 1646, die Möglichkeiten, den Gesang des Vogels in ein kunstvolles Flötenstück einzubetten: mit klagend in die Länge gezogenen Tönen, virtuosen Repetitionen und latenter Zweistimmigkeit, die die Vorstellung eines antwortenden Rivalen evoziert.
Ottorino Respighi geht im dritten Satz seiner sinfonischen Dichtung „Pini di Roma“ von 1924/25 noch einen großen Schritt weiter: Er lässt – ein Novum in der Musikgeschichte – Nachtigallengesang vom Grammophon einspielen, unter Angabe der Plattennummer in der Partitur, eingebettet in gedämpfte Triller der Streicher und Flageoletts der Harfe.
Viele Komponisten haben sich vom unmittelbaren Erleben des Vogelgesangs inspirieren lassen. Der Naturliebhaber Ludwig van Beethoven vermerkt in der autografen Partitur des zweiten Satzes seiner „Pastorale“, „Scene am Bach“, bei den entsprechenden Einsätzen von Flöte, Oboe und Klarinette „Nachtigall“, „Wachtel“ und „Kuckuck“. Seinem Sekretär Anton Schindler gegenüber soll er bei einer gemeinsamen Wanderung außerhalb von Wien, am Nussbach unter einer Ulme rastend, geäußert haben: „Hier habe ich die Szene am Bach geschrieben, und die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum haben mitkomponiert.“
Antonín Dvořák hat ein Thema aus dem Scherzo seines „Amerikanischen Streichquartetts“, das 1893 während seines Sommeraufenthaltes in Spilville in Iowa entstanden ist, einem Vogel abgelauscht, den er bei einem seiner frühmorgendlichen Spaziergänge entdeckte und von dem er seinen Gastgebern begeistert erzählte. Wie der amerikanische Ornithologe Ted Floyd erst 2016 herausgefunden hat, handelte es sich wohl nicht, wie bisher angenommen, um die prächtige rot-schwarz gefiederte Scharlachtangare, sondern den optisch weitaus weniger auffälligen Rotaugenvireo. (Von beiden Spezies sind im Internet Aufnahmen zu finden, sodass sich jeder selbst eine Meinung bilden kann, welchem Vogel der Platz in der Musikgeschichte gebührt.)
Béla Bartók baute in den langsamen Satz seines letzten Werkes, des Klavierkonzerts Nr. 3, Vogelstimmen ein, die der bereits todkranke Komponist während seines letzten Sommers am Saranac Lake, New York City, notiert haben soll.
„Sah heute zehn vor elf 16 Schwäne. Einer der größten Eindrücke meines Lebens!“, schrieb Jean Sibelius am 21. April 1915 in seiner Villa Ainola, auf einer Anhöhe oberhalb des finnischen Sees Tuusulanjärvi gelegen, in sein Tagebuch. „Mein Gott, diese Schönheit! Sie kreisten lange Zeit über mir. Verschwanden im Sonnendunst wie ein Silberband, das hin und wieder aufblitzte. Ihre Laute vom selben Holzbläsertyp wie die der Kraniche, aber ohne Tremolo. Die der Schwäne kommen der Trompete näher, auch wenn der Sarrousophonklang deutlich erkennbar ist. Ein tiefer Refrain erinnert an das Weinen eines kleinen Kindes. Naturmystik und Lebensschmerz!“ Im Finalthema seiner fünften Sinfonie hat Sibelius die Rufe der Schwäne verarbeitet. Und sie ließen ihn nicht los: „Habe immer noch die Schwäne im Sinn“, notiert er ein paar Tage später. „Merkwürdig festzustellen, dass nichts auf der Welt, weder in Kunst, Literatur noch Musik, eine solche Wirkung auf mich ausübt wie diese Schwäne, Kraniche und Wildgänse.“
Den Komponisten und Dirigenten Heinz Tiessen hat der Gesang der Amsel so fasziniert, dass er sein halbes Leben lang ihre schönsten Motive aufgezeichnet hat, mehr als 500 an der Zahl. Er hat ihr sein „Amsel-Septett“ für Flöte, Klarinette, Horn und Streichquartett gewidmet und 1953 ein Buch herausgebracht, in dem er ihr auf der Sprossenleiter der musikalisch höchstentwickelten Singvögel Europas – nach menschlichen Maßstäben gemessen – den obersten Platz zuerkennt.
Wie kein anderer Komponist hat sich jedoch Olivier Messiaen dem Gesang der Vögel verschrieben. Schon als Jugendlicher notierte er sich Vogelstimmen, noch ohne den jeweiligen Urheber identifizieren zu können. Mit Anfang vierzig kam er erstmals in Kontakt mit einem renommierten Ornithologen, Jacques Delamain, der ihn darin unterrichtete, Vögel am Gesang zu erkennen. Von da an notierte er, bewaffnet mit Bleistift, Radiergummi, Wäscheklammern zum Befestigen des Notenpapiers und Fernglas, unablässig Vogelstimmen: bei Reisen kreuz und quer durch Frankreich, nach Nordamerika, Japan oder Neukaledonien, bei Besuchen auf Pariser Vogelmärkten, beim stundenlangen Hören von Schallplattenaufnahmen exotischer Vögel. In zahlreiche seiner Werke haben Vögel Eingang gefunden. Sei es, dass der tiefgläubige Katholik den Topos des Vogels als gefiederter Himmelsbote nutzte, wie im „Quatuor pour la fin du temps“. Sei es, dass er die notierten Gesänge als Ausgangsmaterial verwendete, aus dem er seine eigenen musikalischen Gedanken formte. Oder sei es im Sinne möglichst exakter musikalischer Abbildung, wie im monumentalen Klavierzyklus „Catalogue des Oiseaux“, der in 13 Sätzen Vögel aus den verschiedenen Regionen Frankreichs porträtiert. Er habe darin versucht, so erzählte Messiaen 1967, „den Vogel, der typisch ist für die jeweilige Gegend, genau wiederzugeben, umgeben von Nachbarn aus seinem Habitat, einschließlich der unterschiedlichen Gesänge zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten und umhüllt von harmonischem und rhythmischem Material, das die Düfte und die Farben der Landschaft enthält“.
Natürlich, so räumt auch Messiaen ein, lassen sich Vogelstimmen nicht unverändert auf Musikinstrumente übertragen. Er hat die Gesänge, die oft in der Nähe der oberen Hörschwelle des Menschen liegen, nach unten transponiert, mikrotonale Intervalle vergrößert, um sie dem temperierten Tonsystem anzupassen, extrem schnelle Tempi verlangsamt, die spezifischen Klangfarben der Vögel durch hoch komplexe Akkorde zu imitieren versucht und den Transkriptionen somit seine eigene künstlerische Handschrift eingebrannt. Und doch, so versichert er, „ist alles wahrhaftig“.
Vogelstimmen mit wissenschaftlicher Exaktheit musikalisch wiederzugeben hat kein anderer Komponist derart exzessiv betrieben wie Messiaen. David Rothenberg geht noch darüber hinaus: Der US-amerikanische Philosoph und Jazz-Klarinettist musiziert mit Vögeln. Seit mehr als zwanzig Jahren geht er mit seiner Klarinette in der Bronx in den Zoo, reist in die australische Wildnis oder nach Berlin, mit rund 1.500 Brutpaaren die „Hauptstadt der Nachtigallen“. Er beobachtet Vögel, hört ihnen zu, tritt mit ihnen in Kontakt. Für ihn erschließt der Gesang der Vögel eine neue musikalische Welt, vergleichbar der Musik fremder Kulturen.
„Wenn wir die Musik des Vogels würdigen wollen, müssen wir uns in seine Ästhetik hineindenken“, findet Rothenberg. „Wenn wir mit ihm musizieren wollen, dürfen wir ihn nicht kopieren, sondern müssen uns als Menschen in die Verbindung einbringen und von ihm lernen.“ Um, so seine Vorstellung, zu einem neuen Verhältnis zu unserer Umwelt zu kommen, zu einer „tiefempfundenen Koexistenz zwischen Mensch und Natur“.