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Interview
Mit frischem Blick
Der Bariton Samuel Hasselhorn über das Singen mit Orchester, die Wichtigkeit des Textes und eingefahrene Schubert-Sichtweisen
Von
Arnt Cobbers
Nikolaj Lund

"Urlicht“ heißt das neue Album von Samuel Hasselhorn. Es ist sein erstes mit Orchester – nach vier Aufnahmen mit Klavierbegleitung. Der Untertitel klingt ernst: „Lieder von Tod und Auferstehung“. Dabei hat der 34-jährige gebürtige Göttinger allen Grund, fröhlich zu sein. Seit dem Gewinn des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2018 fluppt die Karriere. Nach zwei Jahren an der Wiener Staatsoper erarbeitet er sich nun am Staatstheater Nürnberg die großen Rollen seines Fachs, gastiert an Häusern wie der Staatsoper oder der Deutschen Oper Berlin und ist ein gefragter Lied- und Oratoriensänger.

Herr Hasselhorn, singt man mit einem Orchester hinter sich anders als mit einem Klavier?

Ja, schon. Es ist aber auch ein Unterschied, ob man ein Konzert singt oder aufnimmt. Man muss sich nicht so viele Gedanken über Balance machen, weil ja überall Mikrophone stehen. Balance wird erst ein Thema im Konzert selbst. Ich habe bei dieser Aufnahme hinter den Streichern mitten in den Bläsern gestanden, beim Mahler-Lied „Um Mitternacht“, wo nur die Bläser spielen, sogar da, wo normalerweise der Dirigent steht. Ich habe zu den Bläsern gesungen und da erst so richtig gemerkt, wie gebannt die waren und mit welcher Freude sie musiziert haben. Ein Orchester kann ganz andere Farben hervorbringen als ein Klavier und einen als Sänger sehr inspirieren. Rein vom Singen her ist es kein großer Unterschied, da geht es vor allem um eine bestimmte Lautstärke und Griffigkeit in der Stimme.

Wie erarbeiten Sie ein Lied – mit einem Pianisten und einem Orchester?

Ich bin ein großer Verfechter davon, dass jeder erst einmal seinen Teil einstudiert, so gut es geht. Wenn man dann zusammenkommt und rein stimmlich und spieltechnisch sicher ist und einander zuhört, dann ist das schon mehr als die halbe Miete. Es geht vor allem ums Zuhören und Reagieren. Mit 50 Musikern zu arbeiten ist natürlich deutlich komplizierter als zu zweit, das muss der Dirigent kanalisieren in Absprache mit dem Sänger. Und dann gibt es bei der Aufnahme ja noch den Tonmeister, dessen Kunst es ist, eine Aufnahme zu machen, die nicht nur interessant und gut ist, sondern auch dem entspricht, was alle wollten. Es ist toll, wenn alle an einem Strang ziehen und offen sind für Experimente und man auch mal eine Risikoversion wagen kann. Manchmal hat man in der Aufnahmesituation kein richtiges Gespür, wie es klingt, was man da gerade macht. Und dann ist es wichtig, dass da jemand im Nachbarraum sitzt, dem man vertraut, wenn er sagt: So kannst du das machen, oder: Mach hier ruhig weniger.

Es darf sich niemand nur als Begleiter oder Dienstleister fühlen?

Auf keinen Fall, damit ist wirklich niemandem geholfen! Meine allererste „Winterreise“ habe ich mit einer Pia­nistin gesungen, bei der ich das Gefühl hatte, sie nimmt nicht richtig teil an der Geschichte. Ein Pianist sollte Kommentare geben und mich inspirieren. Ich finde, es muss nicht alles perfekt sein, mir ist es lieber, wenn auch mal eine Spannung zu hören ist. Manchmal hat das Klavier auch die Melodie, dann begleitet die Stimme. Und bei fast allen Orchesterliedern fängt das Orchester mit einem Vorspiel an oder setzt die Szenerie fort. Es ist schon eine Kunst, zu begleiten, aber dabei aktiv zu sein.

Ihre ersten vier CDs haben Sie mit drei verschiedenen Pianisten aufgenommen. War das Absicht oder Zufall?

Beides. Ich genieße es, mit verschiedenen Leuten zusammenzuarbeiten – weil es viel Inspiration gibt. Aber es gibt auch drei, vier Pianisten, mit denen ich häufiger arbeite.

Wo ist der Unterschied zwischen einem erfahrenen Liedpianisten und einem Solopianisten?

Meist wissen die, die sich auf das Lied spezialisiert haben, sehr viel mehr übers Atmen, über die Besonderheiten bei Sängern, dass zum Beispiel, wenn wir „fragen“ singen, die Zählzeit auf dem Vokal, nicht auf den Konsonanten kommen muss. Für solche Details haben Liedpianisten ein Gespür. Die meisten Liedpianisten gehen auch viel stärker vom Text aus. Die wissen, worum es geht und was es für einen Interpretationsspielraum gibt. Ein guter Freund von mir sagt immer: Es gibt Stücke, da entsteht leicht so eine McDonalds-Interpretation: Man trifft sich und weiß, was man machen kann, hier ein Ritardando, hier vorangehen – man könnte das eigentlich ohne Probe aufführen. Das gefällt dem Publikum, schmeckt gut und hinterher denkt man, so richtig erfüllend war es trotzdem nicht. Da muss man sehr aufpassen. Solopianisten hören andere Dinge und gehen sehr viel mehr von der Musik aus. Und gerade bei Komponisten, mit denen sich Pianisten in der Regel sehr viel mehr beschäftigen als wir Sänger, zum Beispiel Beethoven, lerne ich da unglaublich viel.

Sind Sie vor allem Musiker oder Textausdeuter?

Schwer zu sagen. Im Endeffekt wohl mehr Textdeuter, Geschichtenerzähler. In den Durchsagen im Opernhaus heißt es bezeichnenderweise: Die Musiker und die Sänger auf die Bühne – da wird klar getrennt. Wenn ich im Konzert sitze und höre nur eine schöne Stimme, ist das vielleicht am Anfang ganz toll, aber irgendwann langweilt es mich. Ich empfinde es als großes Glück, dass wir die Musik und die Worte haben. Da berührt oft die Kombination. Beim Lied war immer zuerst der Text da, und der braucht keine Musik – wie die Musik auch keinen Text braucht. Und nun kommt beides zusammen – und es entsteht etwas viel Höheres. Wenn ich zum Beispiel die „Winterreise“ höre, dann ist es mir wichtig, den Text vermittelt zu bekommen. Natürlich gibt es auch Lieder und Operntexte, wo man denkt, das ist jetzt nicht die große Weltliteratur.

Was aber dafür sprechen würde, dass man Oper in Deutschland auf Deutsch und in Frankreich auf Französisch singt.

Stimmt, das wurde ja früher auch so gemacht. Aber es wurde nun mal in dieser Sprache geschrieben, und durch die Übersetzung kommt es vielleicht zu komischen Verschiebungen von Schwerpunkten in der Musik. Ich singe auch gern in der Originalsprache. Aber es ist ein Unterschied, ob man eine Sprache versteht oder ob man eine Übersetzung braucht. Auf der Opernbühne merke ich, dass manchmal gelacht wird, bevor der Witz im Text kommt, die Leute lesen ihn schon in den Übertiteln. Man müsste mal sehen, ob man mit Schubert-Liedern in der jeweiligen Landessprache des Publikums mehr Leute anziehen könnte. Genauso wie man mal einen Liederabend in einer Bar geben müsste, wo man einen Wein trinken kann und die Musik in kürzeren Blöcken bringt, zwischen denen man sich unterhalten kann. Unsere Konzentrationsspanne ist ja nicht immer darauf ausgerichtet, 60, 70 Minuten ohne einen Mucks dazusitzen und konzentriert zuzuhören. Ich frage mich natürlich, warum beim Lied immer noch diese Hemmschwelle da ist. Warum verkaufen sich Liederabende nicht so gut?

Kann es mit den Texten zusammenhängen? Die wirken oft ziemlich altbacken.

Das kann auf den ersten Blick so wirken. „Der Wanderer“ von Schubert ist ein tolles Lied. Aber wenn ich singe: „Und immer fragt der Seufzer, wo?“, dann denke ich mir: So richtig toll ist das jetzt nicht. Der Sprachgebrauch hat sich einfach sehr stark geändert, und viele Menschen können mit Gedichten von Goethe, Heine oder Eichendorff erstmal nicht so viel anfangen. Man müsste vermitteln, wie wir das heute ausdrücken würden. Dann würde sich ein ganz anderes Verständnis einstellen, denke ich. Ich versuche schon, Dinge zu singen, mit denen ich persönlich etwas anfangen und dem Publikum etwas mitteilen kann.

Lassen Sie Lieder weg, wenn Sie mit dem Text nichts anfangen können?

In den Zyklen nicht. Aber in der Regel stelle ich meine Programme ja selbst zusammen, und da mache ich um Lieder einen Bogen, wenn Sie mir nichts geben. Das kann ein Problem sein bei fremdsprachigen Liedern, wenn man das Original nicht versteht. Dann bekommt man eine schlechte Übersetzung und denkt: Was ist das denn für ein blöder Text! Aber das ist umgekehrt natürlich genauso: „Über allen Gipfeln ist Ruh“ – das klingt im Englischen wahrscheinlich auch nicht mehr so schön. Wenn mir das Lied nichts sagt, dann kann ich damit dem Publikum ja auch nichts sagen.

Wie stellen Sie ein Liedprogramm zusammen?

Ich nehme gern auf aktuelle Dinge Bezug. Zu Zeiten der Terrorwelle in Europa 2016/17 habe ich oft den „Feuerreiter“ von Hugo Wolf gesungen, das Lied ist quasi eine komponierte Terrorattacke. Das hat mich damals gepackt. Ich gucke auch, wie man Lieder miteinander verbinden kann. Ich mag es nicht, wenn nach jedem Lied geklatscht wird, und versuche deshalb Blöcke zu bilden. Nach dem „Feuerreiter“ oder dem „Erlkönig“ kann man von Schubert beispielsweise die „Litanei auf das Fest Allerseelen“ singen, wo der Toten gedacht wird. Ich finde es schön, wenn man aus diesen kleinen Juwelen ein größeres Ganzes schafft. Und dann gibt es Lieder, wo ich einfach merke, die funktionieren, da ist das Publikum gebannt. Das sind vor allem die balladenhaften Lieder, in denen es um Geschichten geht. Aber mir ist es wichtig, dass die Leute das Gefühl haben: Der hat sich was dabei gedacht. Ich hab oft „Die beiden Grenadiere“ von Schumann gesungen. Da geht’s um zwei Soldaten, die zogen nach Frankreich und waren in Russland gefangen. Da stellt sich seit dem Krieg in der Ukraine die Frage, ob man das noch singen kann. Es gibt auch von Mahler viele Soldatenlieder, die heute eine bedrückende Aktualität haben.

Kommen wir auf Ihre neue CD, „Urlicht“. Wie ist das Programm zustande gekommen?

Die Idee war: das Orchesterlied um die Wende zum 20. Jahrhundert – weil ich das als Genre interessant finde. Da gibt es sehr viel, und so haben wir uns für ein Thema entschieden: den Tod. Und zwar in all seinen Facetten. Er kann positiv oder negativ gesehen werden, er kann etwas Nationalistisches haben oder etwas Kriegerisches oder als Erlösung erscheinen. Schnell war klar: Wir bleiben im deutschen Repertoire, und wir reichern es mit drei Opernszenen an. Zwei davon sind Lieder in der Oper, die einzige Ausnahme ist ein Duett aus dem „Wozzeck“, das aber dramaturgisch sehr gut passt, weil das die Szene ist, wo Wozzeck die Marie umbringt. Es war natürlich toll, solch ein Projekt machen zu können. Meist gibt man ja ein Konzert, da wird die Generalprobe aufgenommen und hinterher putzt man noch ein bisschen daran herum. Aber hier hatten wir Bedingungen, wie es sie früher gegeben hat: Wir haben uns getroffen, haben geprobt, fünf Tage lang aufgenommen und sind wieder weggefahren.

Entwerfen Sie CD-Programme anders als Konzertprogramme?

Auf jeden Fall! Es geht vor allem um die Reihenfolge. Kaum jemand hört noch in mehrere Stücke einer CD rein. Deshalb ist es extrem wichtig, mit welchem Stück man anfängt. Ein Liederabend dagegen kann sich entwickeln, und da gibt’s auch eine Pause, die man einplanen muss.

Warum machen Sie überhaupt noch und so viele CDs?

Ich finde es einfach schön, dass man der Nachwelt etwas hinterlässt. Und es macht mir Spaß. Geld verdienen kann man damit nicht mehr. Aber alle ein, zwei Jahre eine CD, das würde ich schon gerne hinkriegen.

Sie machen zusammen mit dem Pianisten Ammiel Bushakevitz das Projekt „Schubert 200“: Schubert für „eine neue Generation des Lied-Publikums“. Was steckt dahinter?

Die Idee ist, dass wir die Lieder aufnehmen, die genau 200 Jahre alt sind. 1823 hat Schubert die „Schöne Müllerin“ geschrieben, die haben wir 2023 rausgebracht. In diesem Jahr haben wir ein gemischtes Programm von 1824/25 aufgenommen, 1827 kommt die „Winterreise“, 2028 der „Schwanengesang“. Wir versuchen seine letzten fünf Lebensjahre anhand seiner Lieder nachzuzeichnen. Mir ist es wichtig, einen neuen und frischen Blick auf das Repertoire zu werfen. Ich hatte immer ein Problem mit der „Schönen Müllerin“. Worum geht es? Man sagt, da ist ein Müllersbursche, der eine neue Arbeitsstätte findet. Er verliebt sich in die Tochter des Müllers, sie liebt ihn nicht, er ist todtraurig und bringt sich um. Für mich ist das irgendwie nicht richtig. Es sind 20 Lieder, 60 bis 70 Minuten, und außer dass sie blaue Augen und blonde Haare hat und zwei Halbsätze spricht, erfahren wir nichts über diese Frau. Das ist doch komisch, wenn man so verliebt ist. Meiner Meinung nach gibt es diese Müllerin überhaupt nicht! Wir sprechen hier von einem jungen Mann, der sich in einem Bächlein – er spricht immer von einem Bächlein – ertränkt. Ich weiß, dass man sich auch in einer Pfütze ertränken kann, aber das muss man dann schon echt wollen. Oder er sagt: „Und über den Wolken und Sternen, da rieselte munter der Bach.“ Viele deuten das als Spiegelbild im Bächlein – aber vielleicht deutet das auch auf eine verkehrte Wahrnehmung. Und überhaupt: Die schöne Müllerin müsste doch vom Wort her die Frau des Müllers sein und nicht die Tochter, aber im Zyklus wird ganz klar von einem jungen Mädchen gesungen. Das ist jedenfalls unser Ansatz, und dann ging es uns darum, dass man hört: Irgendwas ist hier falsch. Vielleicht ist der Müllersbursche psychisch krank oder auch homosexuell, und er verbirgt das. Ich sehe das Stück eher gesellschaftskritisch: Vor 200 Jahren war es normal, dass ein junger Mann eine Frau liebt. Aber so ist es nicht immer. Individualität hat keinen oder nur wenig Platz – darum geht es in der „Schönen Müllerin“. Deshalb haben wir manchmal das Gegenteil von dem gemacht, was der Text sagt. Im ersten Lied zum Beispiel, „Das Wandern“, heißt es: „Die Steine selbst, so schwer sie sind, sie tanzen mit den muntern Reih‘n und wollen gar noch schneller sein.“ Normalerweise fängt dann das Klavier an, so rumpelig zu spielen. Wir dagegen waren sehr leise, legato und sind immer langsamer geworden – das Ganze wird eine Art Trancemoment. Solche Sachen bereichern mein Sängerleben und meinen Kopf. Und vielleicht sehe ich das Werk in zehn Jahren auch wieder ganz anders.

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