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Porträt
Musik in Zeiten des Krieges
Der Pianist Kirill Gerstein verbindet in einem ungeahnt aktuellen Projekt Debussy und Komitas
Von
Arnt Cobbers
Marco Borggreve

Ein 170-Seiten-Buch im LP-Format mit dickem Einband, opulent bebildert mit alten Fotos und Notenautographen, dreisprachig mit vier fundierten Essays – und das für zwei CDs. „Music in Time of War“, das neue Werk, man mag es nicht Doppelalbum nennen, des Pianisten Kirill Gerstein ist ein Statement. Und natürlich brandaktuell. Dabei war das gar nicht so gedacht.

„Ich hatte schon lange vorgehabt, die zwölf Debussy-Etüden zu lernen“, erzählt Kirill Gerstein beim Treffen in einem dieser lässigen Selbstbedienungs-Cafés in Berlin-Mitte, bei dem wir kurioserweise nichts trinken. Er habe schon so viel Kaffee getrunken an diesem Tag (wie ich auch), und er sei so oft hier, da störe es bestimmt niemanden, wenn wir nur so dasäßen. „In der Pandemie kam ich endlich dazu. Dann wollte ich die Etüden aufnehmen und überlegte, womit ich sie kombinieren könnte. Debussy hat sie 1915 komponiert, mitten im Ersten Weltkrieg, der für ihn auch so eine Art Lockdown war – wobei man den Krieg und die Pandemie natürlich nicht vergleichen kann. Wir sprechen oft davon, dass die klassische Musik in einer Art Vakuum lebt, also suchte ich nach etwas, was nicht nur musikalisch passen, sondern auch darüber hinaus für die Hörer eine Bedeutung haben könnte. Und dann kam mir Komitas in den Sinn – von einem französisch-armenischen Musiker habe ich vor Jahren mal einen Stapel Noten bekommen. Komitas’ Armenische Tänze für Klavier sind ebenfalls 1915 entstanden. Debussy und Komitas kannten sich in Paris, Debussy hat Komitas sehr geschätzt. Ich dachte, das sei eine interessante Kombination. Und es ist wichtig, auf den Genozid hinzuweisen, der immer noch bestritten wird und vielen unbekannt ist.“

Wie relevant das Thema werden sollte, konnte Gerstein nicht ahnen, als er 2021 die Aufnahmen machte, die sich rasch zu einem größeren Projekt auswuchsen. „En blanc et noir“ für zwei Klaviere basiert auf demselben Material und entstand unmittelbar nach den Zwölf Etüden, Debussys letztes Lied wurde auf einem Konzert zur Unterstützung der armenischen Opfer uraufgeführt, zwei Nummern vor Komitas’ „Antuni“, und da lag es nahe, auch die selten gespielten letzten Klavierwerke von Debussy aufzunehmen. Die „Chansons de Bilitis“ hat Debussy oft in Kriegsspendenkonzerten gespielt, und mit Liedern von Komitas kamen schließlich 140 Minuten Musik zusammen: neben Solowerken eben auch Lieder, die die armenische Sopranistin Ruzan Mantashyan singt, und Werke für zwei Klaviere oder Klavier vierhändig. Hier sind Katia Skanavi bzw. Thomas Adès, mit dem er schon seit Jahren zusammenarbeitet, Gersteins Partner. Die Pandemie machte es möglich, im sonst ausgebuchten Großen Saal des Wiener Konzerthauses (mit seinem guten Raumklang), in der legendären American Academy of Arts and Letters in New York und in der Berliner Siemens-Villa aufzunehmen. Um einen Kontext zu schaffen, bat Gerstein eine französische Historikerin, einen armenischen Historiker und einen armenischen Musikwissenschaftler um je einen Essay und sprach mit Heinz Holliger über Debussys letzte Werke, die dem Schweizer Komponisten sehr nahe sind. Und irgendwie schaffte er es, neben den Streaming-Plattformen Apple und Platoon weitere Finanzierungspartner ins Boot zu holen, die das alles und schließlich auch das opulente Buch möglich machten.

„Es ist eine Chance, vielen Menschen diese Thematik näherzubringen. Der Genozid an den Armeniern ist nicht meine Geschichte“, sagt Kirill Gerstein, der in Russland geboren wurde („Nationalität: jüdisch“), mit 14 Jahren zum Studium in die USA zog und seit Langem in Berlin wohnt. „Aber es ist ein Beispiel für eine menschliche Tragödie. Die Geschichte wiederholt sich, und deshalb ist es so wichtig, sich mit ihr zu beschäftigen. Die Musik ist hier keine Beigabe. Aber es soll eben nicht nur darum gehen, ob ich die dritte Etüde schneller oder langsamer spiele als Mitsuko Uchida.“

Das Medienecho ist groß, selbst die New York Times brachte einen langen Artikel. „Ich freue mich, wenn der armenische Genozid und der Erste Weltkrieg wegen meiner Aufnahme auch im kulturellen Kontext diskutiert werden – und nicht nur im Politik- oder im Geschichtsteil der Zeitung.“

Dass Debussy kein Pazifist, sondern im Gegenteil ein großer Nationalist war, ist Gerstein bewusst. „Seine Position war eher emotional als konsequent durchdacht. Er war gegen den Krieg und wünschte allen Soldaten den Tod. Aber seine Musik ist viel offener. Wir werden diese Widersprüche nicht lösen. Wir müssen Musik von ihren Schöpfern trennen. Aber zugleich, denke ich, man kann ein Kunstwerk nicht richtig schätzen und einschätzen, wenn wir den Kontext nicht kennen. Je mehr wir wissen, desto reicher wird unsere Empfindung beim Hören.“  

Kirill Gerstein ist, das merkt man schnell, ein kluger, vielfältig interessierter Kopf, der sich selbst aber nicht zu wichtig nimmt: „Wenn ich in der Philharmonie auf die Bühne komme und den 2.500 Menschen hoffentlich etwas zu sagen habe durch meine musikalische Interpretation, heißt das nicht, dass alles, was ich in Worten sage, auch wichtig ist für diese 2.500 Menschen. Ich finde es respektlos gegenüber Politikern, Aktivisten und Journalisten, die sich intensiv mit einem Thema beschäftigen, sich einfach so hinzustellen und etwas banal zu kommentieren. Selbst ein brillanter Mathematiker muss nicht auch ein brillanter politischer Analyst sein.“

Dabei hätte Kirill Gerstein allen Grund dazu, mit stolzgeschwellter Brust herumzulaufen. Er ist sicherlich gerade einer der „heißesten“ Namen der Klavierwelt, und als ich ihn frage, wie es sich denn anfühle, im Klavierolymp angekommen zu sein, lacht er fast schüchtern und meint: „Das ist schön, dass Sie das sagen.“ Der fast 45-Jährige, der auf PR-Fotos gerne mal düster guckt, ist in natura ein auffallend nett und sympathisch wirkender Mensch – der übrigens sehr gut Deutsch spricht, ohne, wie er sagt, je Unterricht genommen zu haben.

„Ich bin froh, dass ich mehr und mehr das Glück habe, die Musik machen zu können, die mich am meisten interessiert, mit den besten Partnern. András Schiff hat mich vor 10, 15 Jahren gefragt: Was ist dein Ziel in der Karriere? Wenn man so direkt gefragt wird, hat man selten eine Antwort. Ich hab ihn gefragt: Was denkst du? Und er sagte: Es kommt eine Zeit, da läuft alles gut. Du spielst mit den großen Orchestern, wirst wieder eingeladen. Und dann suchst du mehr und mehr Möglichkeiten, gute musikalische Erlebnisse zu haben, sagte er. Ich finde das sehr schön. Das ist das, was ich mir wünsche. Und diese Erlebnisse kann man mit den Berliner Philharmonikern haben, aber auch bei einem Rezital auf dem Land vor 100 Zuhörern. Wir spielen dieses Karrierespiel mit, aber worum es wirklich geht, sind diese besonderen musikalischen Erlebnisse.“

Der Wunsch, sich seine künstlerische Freiheit zu bewahren und viele Entscheidungen in der Hand zu behalten, hat Gerstein auch bewogen, dem kleinen Kölner Label myrios treu zu bleiben. Und nach wie vor widmet er viel Zeit dem Unterricht. 2007 übernahm er eine Professur in Stuttgart, seit 2018 unterrichtet er an die Hochschule „Hanns Eisler“ in Berlin.

„Lernen, lehren und spielen gehören für mich zusammen. Ich spiele weiterhin meinem Mentor Ferenc Rados vor, auch mal Steven Isserlis oder György Kurtág, davon profitiere ich enorm. Andererseits möchte ich mein Wissen und meine Erfahrungen an junge Musiker weitergeben – wobei ich beim Unterrichten auch wieder lerne. Und natürlich möchte ich Konzerte geben. Ich möchte spielen. Und ich möchte improvisieren.“

Das kann Kirill Gerstein nämlich auch. Schon in jungen Jahren hat er sich für Jazz interessiert. In den USA bekam er dann eine Einladung ans Berklee College in Boston, die renommierteste Jazz-Schule der Welt, wo er zweieinhalb Jahre studierte. Warum er sich dann doch wieder der Klassik zuwandte?

„Mit 16, 17 ist man radikaler, ich dachte, man muss sich entscheiden. Wobei ich immer noch glaube, beides auf gleichem Niveau zu machen, ist unmöglich. Das klassische Klavier-Repertoire ist endlos. Und im Jazz gibt es auch so viel zu tun, so viele Dinge zu erforschen. Beethoven, Liszt, Bach waren alle große Improvisatoren, die sich aber Zeit genommen haben, ihre Musik auszuarbeiten und ihre Stücke reicher zu machen. Ich hatte das Gefühl, mich mit den kreativen Ergebnissen von Bach, Liszt und anderen Meistern auseinanderzusetzen, wird mir auf die Dauer mehr Freude machen als meine spontanen improvisierten Momente. Aber in letzter Zeit fühle ich wieder stärker, das mir die Improvisation noch nah ist. Das bleibt eine essenzielle Komponente in meinem musikalischen Leben. Beim Klavierfest Ruhr habe ich letztens mit dem Jazzpianisten Brad Mehldau Bach, Brahms, Ligeti, Kurtág und Stücke von ihm gespielt, aber auch musikalisch kommentiert und improvisiert. Ich glaube, das war faszinierend fürs Publikum. Und ganz sicher für uns beide. So verschieden sind diese Welten gar nicht: Es gibt viele Strukturen und Rezepte im Jazz, die feststehen. Und es gibt viel Freiraum in der Klassik, wie man etwas ausspricht und gestaltet.“

In einem Grenzbereich bewegte sich übrigens auch der Armenier Komitas, der durch seine Heimat reiste und Volkslieder sammelte. „Was er dann veröffentlichte, sind zum Teil reine Transkriptionen, zum Teil Bearbeitungen“, erläutert Gerstein. „Manche Stücke sind eigene Kompositionen, und bei vielen ist es nicht mehr zu trennen, so dicht ist Traditionelles mit eigenem verwoben. Übrigens wie in Busonis ‚Fantasia contrappuntistica‘, wo man auch oft nicht weiß, wo hört Bach auf, wo beginnt Busoni. Ich finde es faszinierend, dass man auch bei Komitas nicht sieht, wo der Schnitt verläuft.“

So hat Kirill Gerstein mit „Music in Time of War“ fast so etwas wie die musikalische Quadratur des Kreises geschafft. Er hat ein wichtiges, noch dazu leider brandaktuell gewordenes historisches Thema wieder in den Blick gerückt, er hat herausragende Interpretationen von Debussy vorgelegt, er richtet den Fokus auf einen spannenden Komponisten, der vielen noch unbekannt sein dürfte – und hat es auch noch geschafft, das alles als sein eigener Produzent in einem außergewöhnlich gelungenen Gesamtpaket zu realisieren. Respekt!

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