
Maurice Ravel am Klavier am 7. März 1928 in New York, während eines Abends zu Ehren seines 53. Geburtstages. Hinter ihm, von links nach rechts, der Dirigent Oskar Fried, die kanadische Sängerin Éva Gau-thier, Manoah Leide-Tedesco und George Gershwin
Im Dörfchen Montfort l’Amaury, dreißig Kilometer westlich von Paris, steht eines der sonderbarsten Künstlerhäuser, die es auf der Welt gibt. Von der schmalen Straße gelangt man unmittelbar in eine regelrechte Puppenstubenwelt. Überall stehen Nippes und mechanisches Spielzeug, das Kinderaugen leuchten ließe. Die Zimmer, Treppchen und Balkone sind winzig und verschachtelt. Eine versponnene Märchenkulisse, wie Kinder sie sich erträumen oder zusammenzimmern, und nur Kinder stoßen sich nicht in diesem Haus. Der Körper des Mannes, der dieses kuriose Traumreich schuf, wuchs nie zu normalen Proportionen heran, obwohl Maurice Ravel mit gut 1,60 Metern gar nicht so klein war, wie die Räume es suggerieren. Doch allzu groß saß der Kopf mit den ausgeprägten Zügen auf dem schmächtigen Körper eines Heranwachsenden, und keine noch so ausgesuchte Mode konnte dieses Missverhältnis überdecken. Eher akzentuierte sie es auf bizarre Weise. Ravels Äußeres schien ihn als Bewohner eines Zwischenreiches auszuweisen. Sein Verhältnis zur Körperlichkeit gibt ohnehin Rätsel auf. Ravel blieb nicht nur zeitlebens Junggeselle, er lebte vermutlich völlig asexuell, und Biografenversuche, Spuren jugendlicher Bordellbesuche oder vager homoerotischer Annäherungen nachzuspüren, erzählen eher von den Bedürfnissen der Autoren. Sicher ist, dass der unreife, der Welt der Kinder anhängende Ravel und jener intellektuell so kühl kalkulierende, intellektuelle Künstler niemals in ein harmonisches Verhältnis zueinander gelangten. Dieser Bruch in Ravels Persönlichkeit mag eine der Quellen jener leisen Melancholie sein, die seine Musik vom ersten bis zum letzten Takt durchdringt.
Der rätselhafte Bewohner des „Belvédère“ genannten Anwesens residierte in einer Übergangszone. Die Vordertür wies zum Leben des Ortes, an dem Ravel gerne teilnahm, und darüber hinaus zur Welt der Metropole, die in zwei Stunden zu erreichen war. Der Teilzeiteinsiedler sog die Kultur der Großstadt auf und ließ sich dort sogar eine erstaunlich futuristische Wohnung einrichten.
Die andere Seite des Hauses blickt zum Wald von Rambouillet, der den ganzen Horizont ausfüllt, als ende dort die bewohnte Welt. Ravel liebte diesen enormen Forst, dessen Tiefe zu langen Promenaden einlud. Seine schluchtenartigen Pfade, trüben Weiher und scheuen Bewohner kannte er, als wäre er der Förster des Reviers. Sogar wann und wo ein einzelner Baum blühte, wusste er zu sagen.
Dass das „Belvédère“ einen Übergangsbereich zwischen Natur und Urbanität einnimmt, wäre nicht ungewöhnlich für das typische „Sommerkomponieren“. Brahms’ Domizil in Ischl war sehr ähnlich angelegt: Nach vorn verließ er es, um sich in der mondänen Sphäre zu zerstreuen; zur Gartenseite hin war der Wald, in dem er seine Inspirationen sammelte, um sie an seinen Schreibtisch heimzutragen. Aber es wäre allzu simpel, Ravel in die Reihe der Sommerkomponisten von Beethoven bis Mahler einzuordnen, die im Rhythmus ihrer Spaziergänge ihre motivischen Ideen ausformten und dabei einen Hauch sommerlicher Natur eintrugen. Ravel betrachtete den Wald als Teil einer verlorenen Welt, von der er Besitz ergreifen konnte, indem er sie fast gewaltsam in etwas Artifizielles verwandelte und ihre Bewohner in traurige kleine Automaten, die sich an ihren metallischen Drähten wund reiben. Solche Geschöpfe erfand er schon 1905 mit seinen düsteren „Oiseaux tristes“.
Ravels Haus ist nicht nur Zwischenreich und Psychotop, es spiegelt jene Bruchzone unauflösbarer Paradoxien, die uns in jeder Phase seiner Entfaltung Rätsel aufgeben. Allüberall verwirrt dieses schillernde Spiel mit dem Weder-noch, dieses kokette Changieren zwischen Natur und Künstlichkeit, Ernst und Ironie, Kindlichem und Ausgereiftem, mühelos Wirkendem und doch so pedantisch Erarbeitetem. Woran man bei Ravel ist, das weiß man nie. Immer aber scheint seine Kunst sich nach der harmonischen Ganzheit jenseits aller Brüche zu sehnen. Ihre letzte, in ihrem völligen Scheitern so berührende Gestalt findet diese Sehnsucht in seinem späten Hauptwerk „L’enfant et les sortilèges“.
Das Libretto schuf Gabrielle-Sidonie Colette, die Ravel seit der Jahrhundertwende kannte. In nur acht Tagen schrieb sie ihrem stets etwas distanzierten Freund einen Text auf den Leib, in dessen Vertonung er sein Innerstes legen konnte. Die beiden teilten ganz offenbar eine seltene Erinnerung an die Seelenwelt der Kindheit. Die Skizze lag Ravel noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor, doch nahm er den Faden erst 1919 wieder auf. Komponiert hat er das Werk erst nach 1921 – in seinem Zauberreich in Montfort.
Das Werk gibt sich als märchenhafter Reigen einer sich magisch verwandelnden Kinderzimmerwelt, in der die Gegenstände und Lebewesen zu sprechen beginnen. Aber so harmlos ist das Ganze nicht. Eigentlich ist es eine Zerstörungsorgie. Das unartige Kind zerbricht Tassen, zerreißt Tapeten und Kinderbücher, quält Katzen und die Wesen des Gartens. Ravel wusste wohl, wie grausam kleine Menschen sein können. Erst in ihrer Verletztheit erheben diese Dinge ihre anklagenden Stimmen. Einige Takte zählen zu den berührendsten, die Ravel komponiert hat: die Klage der Märchenprinzessin, das unheimlich drohende Kaminfeuer oder der Reigen der Schäfer. Aber das sind nur nostalgische Reflexe inmitten eines stilistischen Scherbenhaufens aus allen möglichen Modetänzen und Stilanleihen, der in ästhetischer Hinsicht ein ziemlich problematisches Bric-à-brac darstellt. Am Ende fahren die gequälten Geschöpfe aus der belebten und unbelebten Welt dem bösen Kind an die Kehle. Der verzweifelte Ruf nach der „Maman“ beendet die kakofone Bedrohung recht abrupt und wirkt weniger wie eine heilende Versöhnung als wie die Vertreibung eines Spuks. Nur die Mama kann helfen … Ravel hat diesen Schrei in äußerster Not an einem Ort unbeschreiblicher Zerrissenheit gehört. Davon später. Aber mit dem Ruf nach der Mutter sucht der Komponist auch die verlorene Welt seines Kindheitsglückes wiederherzustellen. Ein rätselhaftes Verlangen für einen fast Fünfzigjährigen.
Ravel wurde am 7. März 1875 in Ciboure geboren, im äußersten Südwestwinkel Frankreichs, nur einen Steinwurf von der spanischen Grenze entfernt. Obwohl die Familie schon wenige Monate nach seiner Geburt nach Paris zog, reiste Ravel bis in seine letzten Jahre immer wieder dorthin. Es war die Heimat seiner Mutter. Der Vater war Schweizer, ein erfinderischer, ruhelos-versponnener Charakter, der neben seinem Ingenieursberuf – unter anderem konzipierte er die Bahnlinie von Madrid nach Irún – eine Reihe bemerkenswerter Erfindungen machte, die jedoch nie zur Serienreife gelangten. Immer ging etwas völlig schief. Sein früher Entwurf eines Zweitaktmotors explodierte, und seine Zirkusattraktion „Todeswirbel“ führte tatsächlich zu einem tödlichen Unfall. Von der Perfektionsbesessenheit seines Sohnes war bei ihm nichts zu spüren.
Die Familie Ravel führte ein Leben von seltener Harmonie. Dieses schattenlose Reich grenzenloser Zuwendung, dessen späterer Verlust eine tiefe Wunde hinterließ, vermochte keine Beschwörung – weder in seinem Werk noch in der Erschaffung seiner Rückzugsklause in Montfort – je wiederzuerwecken. Es blieb in seinem Geiste das verlorene Paradies.
Ravels früh auffallende Musikalität wurde in beispielhafter Weise gefördert. Das Kind mit den altklugen, ernsten Augen eignete sich das Handwerk anscheinend mühelos an und scheint schon in jungen Jahren eine fast beunruhigende Reife erreicht zu haben. Dieser Zug ist oft überakzentuiert worden: Ravel, der Künstler, dessen unverwechselbares Idiom plötzlich da ist wie eine jäh aufgesprungene Blüte.
Diese Erzählung unterschlägt, dass unter der glatten, unauffälligen Oberfläche die Widersprüchlichkeit seiner Kunsthaltung längst angelegt war. Früh fand er zu einer sehr eigenwilligen Tonsprache, die experimentell gesuchte Wendungen kultivierte, doch mit dem trockenen Formalismus der Konservatoriumslehre tat er sich sehr schwer. Dass ihm die Anerkennung der Professoren wichtig war und er seine Extravaganzen nicht als Rebellion verstanden wissen wollte, beweisen seine vier vergeblichen Anläufe, den begehrten „Prix de Rome“ zu erringen. Bei seinem letzten Versuch im Fugen- und Kantatenschreiben war er dreißig Jahre alt und hatte mit den „Jeux d’eau“ und dem Quartett längst Werke in einem unvergleichlichen Ton geschaffen. Dieses Scheitern rief einen Skandal hervor, der Ravel endgültig zu einer Berühmtheit machte, aber auch seine Abneigung gegenüber den tradierten Formen vertieft haben wird. Nur wenige seiner Kompositionen geben vor, sich klassischen Mustern zu unterwerfen: das Quartett, die Sonatine, das Klaviertrio, die beiden späten Sonaten und das Klavierkonzert. Aber keine davon lebt von formalen Anknüpfungen und Reflexionen, vielmehr scheint er diese überkommenen Gehäuse ironisch zu zerbrechen. Doch auch diese Brechungen überhaucht eine betörend-lindernde Klangschönheit.
Ravels Werke vor 1914 verströmen eine kaum zu beschreibende Vollkommenheit und Sicherheit, die den Grad des Gebrochen-Experimentellen absichtsvoll verschleiern. Die disruptiven Züge, wie sie in der Kinderoper ausbrechen sollten, liegen meist noch unter der Oberfläche. Umso verstörender sind einzelne Ausbrüche wie die nicht nur in manueller Hinsicht grauenerregende Studie des Poltergeistes Scarbo aus dem „Gaspard de la nuit“ (1909). Dass das Stück in Ravels Geist reifte, als er am Todeslager seines geliebten Vaters saß, lässt es auch als Dokument des Schreckens und Verlustes hören. Und war der Vater, der sogar einen frühen Typus des Maschinengewehrs erfunden hatte, nicht auch ein Verwandter Scarbos?
In ihrer meisterlichen Geschliffenheit unterscheiden sich diese Arbeiten erheblich von denen seines pastoser auftragenden Rivalen Debussy, der in seinen Naturbildern kaum auf die Idee gekommen wäre, seine Eindrücke in minutiös ausgeformte und austarierte Strukturen zu zwingen, wie es Ravel in den zart-antikisierenden Tableaus seiner „Daphnis“-Partitur tat. Ravels Musik folgt nie der Absicht, die Unmittelbarkeit des Erlebten zu spiegeln oder flüchtig zu skizzieren.
In seinem oft als „ingenieurhaft“ beschriebenen, langsam-genauen Schaffensprozess, der nichts von den Schauern der Inspiration oder revolutionären Schärfen wissen wollte, schlichen sich schon früh durchaus fortschrittliche Züge ein. Bereits 1898 schrieb Ravel in seiner Habanera Akkordfolgen, die der faszinierte Debussy sich bedenkenlos aneignete, was sogar zu einem kuriosen Rechtsstreit führte. Nie aber wäre Ravel auf die Idee gekommen, sich als Vertreter der Avantgarde zu sehen. Seine stilistischen Versuche sind eher Zeugnisse seiner Suche nach aufreizend erlesenen und komplizierten Effekten.
Der etwas schmächtige, unproportionierte junge Mann tauchte in den Ästhetizismus des Fin de siècle ein wie in ein Element, das auf ihn gewartet hatte. Ravel pflegte einen Kult der Künstlichkeit – in seiner Kleidung, seinen literarischen Vorlieben und seinen musikalischen Experimenten. Seine Empfänglichkeit für das Symbolistisch-Verrätselte, aber auch für das Verworfene der Décadence und ihrer Paten – Poe, Baudelaire, Huysmans, Mallarmé – bildete einen verstörenden Gegenpol zum staunenden Kind, das er zugleich blieb. Und schon in seinen Lehrjahren suchte er nach musikalischen Entsprechungen dieser Reize und fand sie in raffiniert-dissonanten Tonfolgen wie unaufgelösten Septimen und Nonen, wie sie schon Chabrier und Satie benutzt hatten, obwohl es die akademische Harmonielehre verbot.
Seine Mallarmé-Lieder (1913) tasten sich so weit an die Grenzen der Tonalität vor, dass ihnen die fortschrittstrunkene deutsche Musikwissenschaft den zweifelhaften Ehrentitel des „fast-schon Schönberghaften“ verlieh. Ravel verstand diese Anlehnung an die von ihm immer verteidigte Wiener Moderne indes nicht als Etappe seiner unumkehrbaren Entwicklung, sondern als einen seiner vielen Griffe in den Fundus des Gesuchten und Bizarren.
Ravels Stilexperimente näherten sich nicht selten der Parodie. Schon seine beliebte „Pavane pour une infante defunte“ (1899) mit ihrer preziös inszenierten Traurigkeit verdankt ihren Titel nur einem reizvollen Spiel mit Assonanzen. Die Lust am Parodistischen konnte fast destruktiv aufflackern. In seinen „Histoires Naturelles“ (1907) brechen Effekte ironischer Desillusionierung scharf durch die zuvor mit fast betulichem Ästhetizismus ausgespannten Klangoberflächen. Wenn der feierlich schreitende Pfau unverhofft seinen hässlichen Ruf ertönen lässt oder der anmutige Schwan tauchend einer „fetten Gans“ gleicht, reißt Ravel das Publikum mit diabolischem Kichern aus seiner Schönheitstrunkenheit.
Doch der wichtigste Zug der Ravel’schen Ästhetik ist seine unbegrenzte Fähigkeit der Aneignung ererbter Stile und Idiome. Fast immer entzündet sich seine Fantasie an vorgeformtem Material. Hier begegnen wir dem durchaus problematischen, ambivalenten Zentralmotiv seines Triumphs.
Das Spektrum der Anleihen ist unerhört weit: Da ist der Orient aus „Tausendundeiner Nacht“ mit einer morbiden Lust an Rosen und Blut, eingefangen im „Scheherazade“-Triptychon. Da lebt in der „Heure espagnole“ ein Spanien humorvoll übersteigerter Gemeinplätze auf, da verwandeln sich Liszts „Wasserspiele“, die Tänze Schuberts oder Couperins in Ravels ureigensten Besitz. All diese gestaltenreichen Metamorphosen tragen den Stempel des Individuellen.
Aber vielleicht sind die drei Werke, die sich der höchsten Vollendung nähern, auch jene, in denen der geliehene Stoff bis zur Unkenntlichkeit eingeschmolzen und verwandelt ist: „Gaspard de la nuit“, „Daphnis et Chloé“ und das Klaviertrio.
Dann aber, nach der Vollendung des Trios im Sommer 1914, geschah etwas Eigentümliches. Martin Cooper formulierte es 1951 mit der Erbarmungslosigkeit, die sich die britische Musikologie damals gestattete: Wäre uns etwas Bedeutendes entgangen, wenn Ravel 1914 gestorben wäre?
Man könnte Cooper leicht widersprechen, schließlich stammen einige von Ravels populärsten Werken aus seinem späteren Leben. Was ist mit dem „Boléro“, mit „La Valse“, mit den beiden Klavierkonzerten? Und doch zeigt er auf etwas Wesentliches, Beklemmendes. Blickt man mit analytischer Distanz auf die vertrauten und beliebten Schöpfungen nach 1914, fällt ein gemeinsamer Zug auf: In allen Fällen hat sich der Zug der Anleihe zur Stilübung verselbstständigt. Das Spiel mit dem Entlehnten dominiert den kompositorischen Charakter vollständig. „L’enfant et les sortilèges“ mit seinen Modetänzen ist prototypisch, aber auch die manische Etüde des „Boléro“, „La Valse“, die „Tzigane“ oder die Violinsonate zeigen jenen Mangel an Integration. Etwas ist aus der Balance geraten. Der Ravel nach 1914 gleicht nur noch in wenigen, ihrerseits fast anleihehaften Momenten dem Künstler, der er einst war. Drei solcher Passagen lassen jedem feinfühligen Hörer das Herz vor Rührung zittern: In der Kadenz des Konzerts für die linke Hand, in leisen Passagen der Toccata und in der Szene der Prinzessin aus „L’enfant et les sortilèges“ zitiert Ravel sich selbst – mit den unverkennbaren Harmonien aus der „Ondine“ oder „Daphnis et Chloé“. Doch diese Augenblicke stehen in einer Umgebung, die in ihrem Gewitterlicht das Spiel der Zitate zu einem grellen Spektakel erhoben hat, in dem das Parodierte, Geliehene die ästhetische Alleinherrschaft übernommen hat. Jede Rückkehr zur melancholisch-sehnsüchtigen Illusion der Harmonie ist ausgeschlossen.
Man hat diesen Stilwandel, der auch ein Stilverlust ist, lange mit den rätselhaften, nervösen Symptomen in Verbindung gebracht, die Ravel schon früh befallen hatten und die vielleicht jene ebenso rätselhafte Krankheit ankündigten, die zu seinem Verstummen führte.
Erst 2016 erschien ein kleines Büchlein, das anderen Ursachen nachgeht und Ungeheuerliches berichtet: „Les Forêts de Ravel“ von Michel Bernard. Ein Text, der jedem Liebhaber Ravels die Augen öffnen wird. Über die Tatsache, dass Ravel 1916 als Lkw-Fahrer vor Verdun gedient hat, ging die Literatur lange mit einer gewissen Routiniertheit hinweg, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass sich dieser hochsensible Ästhet der bis dato größten Menschheitskatastrophe ausgesetzt hatte. Immerhin war er ja kein Frontkämpfer – dafür war er zu leicht.
Doch was Ravel sah, ja unbedingt sehen wollte in seiner morbiden Sensationslust und in bemerkenswert selten zitierten Briefen beschrieb, ist entsetzlich genug. Er gehörte zu der kleinen Zahl von verwegenen Fahrern, die sich den Linien unmittelbar näherten. Er kannte das Heulen der verschiedenen Kaliber, das gesamte infernalische Orchester der Artillerie. Er sah die zerrissenen Pferde, durchquerte die zerfetzten Wälder und transportierte die nach ihrer Mutter schreienden Verwundeten. In einem als Hilfslazarett umfunktionierten Schloss spielte er ihnen Chopin vor.
Wir erfahren von einem Tag, an dem Ravel nahe der Front beobachtete, wie die Gliedmaßen zerschmetterter Frontkämpfer vorbeigetragen wurden – teils ohne Kopf. Welcher andere Musiker seiner Zeit sah so etwas? Wundert es, dass Ravel nach seinen Erlebnissen in ein langes, trübes Schweigen fiel? Erholte er sich je davon? Bernards Buch lässt daran zweifeln.
Die Schaffenskraft kehrte langsam zurück. Der Ausbau seines Hauses mag ein erster Versuch gewesen sein, die Wunden zu heilen und innere Kräfte wiederzufinden, die Komposition der kindlichen Zerstörungsorgie ein weiterer. Doch die Zentrifugalkräfte waren stärker. Das Kriegserlebnis war vielleicht wirklich jene gewaltige Dissoziation, die Ravels Schaffen in zwei Hälften teilt: die größte aller Rupturen in seinem an Brüchen reichen Dasein.
Nur noch elf Werke schrieb er nach dem Krieg, einige davon wurden zu seinen berühmtesten. Ravel wurde in der ganzen Welt als der größte lebende Komponist Frankreichs gefeiert. Ob er es noch war, ob diese beiden Jahrzehnte ein Verdämmern der Schöpferkraft oder doch den Aufbruch zu neuen Ufern zeigten, mag jeder Hörer mit sich selbst ausmachen. Die Philologie kann es nicht entscheiden. Aber ein einziges der Meisterwerke seiner ersten Periode würde genügen, diesen Mann, den Colette immer zärtlich „Eichhörnchen“ nannte, zu einem der Größten aller Zeiten zu erheben.