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Musikgeschichte
Vom Kinderlied zum Jazzklassiker
„My Favorite Things“ oder: Was hat John Coltrane mit Salzburg zu tun?
Von
Berthold Klostermann

Crisp apple strudels … schnitzel with noodles“, daran denke ich, wenn ich schlecht drauf bin, und schon geht’s mir besser – heißt es in „My Favorite Things“, einem der bekanntesten Songs des Jazzrepertoires. Da mag man sich wundern, wie denn wohl Apfelstrudel und Schnitzel in den Jazz gelangen. Von Hard Bop, Soul-Jazz und Rhythm ’n’ Blues, also schwarzen Stilrichtungen, kennt man „Pig Foots“ (Schweinefüße), „Grits and Gravy“ (Maisgrütze mit Bratensoße), „Chitlins con Carne“ (Kutteln mit Hackfleisch) oder „Red Beans and Rice“ (Kidneybohnen mit Reis), lauter Gerichte aus der herzhaften afroamerikanischen Küche der Südstaaten. Ein veritabler „Soul Food“-Speisezettel ließe sich aus Songtiteln wie diesen zusammenstellen – fleischlichen Genüssen war der Jazz ja nie abhold. Aber Schnitzel und Strudel? Solch österreichische Leckereien scheinen im Jazz weit hergeholt. Doch hier kommt Salzburg ins Spiel – Vorhang auf für die Trapp-Familie!

Am Anfang stand ein Buch, die Memoiren der Österreicherin Maria Augusta von Trapp (1905-87). Als Vollwaise in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, wurde sie trotz der Widrigkeiten Lehrerin und wollte Nonne werden. Sie trat in die Abtei Nonnberg in Salzburg ein, doch vor dem Noviziat sollte sie ein Jahr lang als Gouvernante die sieben Kinder des Marineoffiziers und Witwers Georg Ludwig Ritter von Trapp betreuen. Statt Nonne zu werden, heiratete sie 1927 Trapp und ergänzte die Großfamilie um zwei weitere Kinder. In ihrer Villa zu Salzburg frönten die Trapps der Hausmusik und professionalisierten sich unter Anleitung ihres Hauskaplans so weit, dass sie 1935 bei einem Chorwettbewerb während der Salzburger Festspiele den ersten Preis gewannen. Nach der Annexion Österreichs durch die Nazis 1938 verließ der Monarchist Trapp, inzwischen bankrott, mit den Seinen das Land. Sie ließen sich in den USA nieder und machten als Trapp Family Singers Karriere.

In ihren Erinnerungen, die 1949 auf Englisch, 1952 auf Deutsch erschienen, schildert Maria Augusta den Aufstieg „Vom Kloster zum Welterfolg“. Auf Basis des Buchs entstanden zwei Heimatfilme, „Die Trapp-Familie“ (1956) und „Die Trapp-Familie in Amerika“ (1958), deutsche Produktionen mit Ruth Leuwerick als Maria Augusta. Auf dem Buch und den Filmen basiert das Musical „The Sound of Music“, die letzte gemeinsame Arbeit des bekannten Autorenteams Richard Rodgers (Musik) und Oscar Hammerstein II (Songtexte). Eigentlich sollten sie nur einen Song beisteuern, letztlich lieferten sie die komplette Musik, neben dem Titelsong auch Nummern wie „Do-Re-Mi“, „Edelweiss“ und „My Favorite Things“, die zu Standards oder gar Pophits wurden. 1959 hatte das Musical Premiere am Broadway, 1960 wurde es mit fünf Tony Awards und einem Grammy ausgezeichnet – und 1965 verfilmt, mit Julie Andrews in der Hauptrolle. Es wurde einer der erfolgreichsten Hollywood-Musikfilme überhaupt. Die Dreharbeiten fanden in Salzburg statt, und bald nach der New Yorker Premiere kamen Besucher in die Mozartstadt, um einschlägige Drehorte zu besichtigen. Heute, zum sechzigjährigen Jubiläum der Filmpremiere, lockt Salzburg mit einer Stadtrundfahrt zu den Schauplätzen des Films. Für Musicalfans vielleicht eine echte Attraktion.

Ob Bühnen- oder Leinwandversion, kaum ein Österreich-, Alpen- oder Heimatklischee wurde in „The Sound of Music“ ausgelassen, und nicht zuletzt denen verdankte das Musical seinen Erfolg beim amerikanischen Publikum. Im Song „My Favorite Things“ geht es Schlag auf Schlag: Neben den eingangs zitierten kulinarischen Spezialitäten ist von glänzenden Kupferkesseln und warmen Wollfäustlingen die Rede, von cremefarbenen Ponys, Schneeflöckchen und Schlittenglöckchen. Und dies alles im Walzertakt.

Im Film gibt Julie Andrews das Lied mit Trapps reizender Kinderschar zum Besten, bald wurde es in Kindergärten gesungen. Dass Jazzmusiker sich dafür interessieren würden, stand kaum zu erwarten – wäre da nicht John Coltrane gewesen, der es 1960, also schon bald nach der Bühnenpremiere, im Studio einspielte und fortan zu einer Art „Erkennungsmelodie“ erhob. An die 18 – wenn nicht mehr – Live-Aufnahmen sind belegt, in denen er den Song immer tiefer, gewagter, ausufernder erforscht, auslotet und ergründet. „Fünf Jahre lang“, verriet Elvin Jones, der Drummer des Coltrane-Quartetts, später, „spielten wir das Stück, als gebe es kein Morgen.“

Um die seichten Lyrics brauchte sich Coltrane nicht zu scheren, bei ihm ist das Stück instrumental. Ohnehin stützte er sich zu jener Zeit gern auf leichte Kost und populäres Material. 1961 steuerte er bei Miles Davis zu „Someday My Prince Will Come“ aus dem Walt-Disney-Zeichentrickfilm „Schneewittchen“ ein Gastsolo bei, wenig später interpretierte er das englische Traditional „Greensleeves“, benutzte das spanische Volkslied „El vito“ als Ausgangspunkt für „Olé“ und nahm sich 1965 das Liedchen „Chim Chim Cheree“ aus Disneys „Mary Poppins“ vor. Ebenso wie „My Favorite Things“ stehen sie alle im 3/4-Takt, damals ein kaum gebräuchliches Metrum im Jazz, das bei Coltrane allerdings zu einem trancehaft-treibenden Jazz-Waltz in 6/8 wird. Mit „My Favorite Things“ setzt er einen Meilenstein und übernimmt die Führung im Jazz der 1960er Jahre, indem er vertraute Standards auf neue, als „orientalisch“ empfundene Weise interpretiert.

Es ist Coltranes Zeit beim Label Atlantic (1959-61), die „formative years“ seines bald legendären Quartetts mit dem Pianisten McCoy Tyner und Drummer Elvin Jones; Jimmy Garrison ist noch nicht dabei, den Bass spielt Steve Davis. Doch Coltrane sucht nicht nur passende Gefährten, er sucht neue Ausdrucksformen: weg von der konventionellen Funktionsharmonik, vom Improvisieren über die „Changes“ und der Struktur von Standards, hin zum skalenorientierten modalen Spiel, wie er es bei Miles Davis auf „Milestones“ (1958) und „Kind of Blue“ (1959) erprobt hat. Leichtgewichtige Showtunes und Traditionals kommen ihm da gerade recht. Seine Studioversion von „My Favorite Things“ läuft 13 Minuten lang über einen hypnotischen Groove von Bass/Schlagzeug und changiert harmonisch zwischen nur zwei Akkorden, E-Dur und e-Moll. Coltrane reduziert die AAAB-Struktur des Originals zunächst auf AA, das er, unterbrochen von einer kürzeren Improvisation, zweimal spielt. Es folgen ausgedehnte Improvisationen von Klavier und Saxofon, als Übergang dient jeweils ein Rückgriff auf den A-Teil des Themas. Ganz zum Schluss, nach zwölfeinhalb Minuten, rückt er mit dem B-Teil heraus, zum ersten und einzigen Mal. Womit das beschwörende Jazzmantra ein schlüssiges Ende findet.

Spektakulärer noch als sein Umgang mit Form und Harmonik des Stücks wirkte Coltranes Spiel auf dem Sopransaxofon. Kurz zuvor hatte er das Instrument erstmals im Studio ausprobiert, die Aufnahmen („The Avantgarde“, mit Musikern des Ornette-Coleman-Quartetts) wurden allerdings erst Jahre später veröffentlicht. Im damals aktuellen Jazz kam das Instrument praktisch nicht vor; der weithin Einzige, der es spielte, war Steve Lacy. Jetzt verlieh Coltrane – seit seiner „Erweckung“ 1957, die er im Text zu „A Love Supreme“ bekannte, zunehmend in spirituelles Denken östlicher Religionen vertieft – dem Sopran einen solch intensiv-durchdringenden, oboenartig näselnden Ton, dass man meinen könnte, ein orientalisches Doppelrohrinstrument wie die türkische Zurna oder die maghrebinische Gaita zu hören. Im Zusammenwirken mit dem modalen Skalenspiel und dem durchgehend trancehaften Groove mutet seine Version von „My Favorite Things“ an wie eine von tiefer Spiritualität durchdrungene Jazzmeditation, die er in der Folgezeit bis zu halbstündigen Live-Ekstasen ausdehnen konnte. Für alle modernen (Tenor-)Saxofonisten nach ihm – von Wayne Shorter bis, sagen wir: Branford Marsalis – wurde es fortan so gut wie obligatorisch, auch Sopran zu spielen.

Es bedurfte des Instrumentalisten Coltrane, „My Favorite Things“ für den Jazz zu erschließen, erst nach ihm entdeckten Vokalisten das Lied für sich, allen voran die große Sarah Vaughan und der Vocalese-Virtuose Mark Murphy, beide 1961. Dem einfältigen Text begegneten sie völlig ironiefrei. Der Jazzgesang brachte so unfreiwillige Merkwürdigkeiten hervor wie die Affektiertheiten einer Maria João (1985, 1987) oder die Sopranvokalisen einer Kathleen Battle zu Al Jarreaus Scat-Improvisationen (1994), wogegen etwa Youn Sun Nah dem Song, in entschleunigtem Tempo und nur von einer Kalimba begleitet, charmanten Reiz abgewinnt (2010).

Spannender für den Jazz sind allemal Instrumentalbearbeitungen von „My Favorite Things“. Schon früh dabei waren Bill Evans (solo, 1963), der es vergleichsweise konventionell auf die standardmäßigen „Changes“ zurückführt, und Dave Brubeck, der Herr der ungeraden Metren (1965). Das solopianistische Denkmal, das McCoy Tyner seinem einstigen Leader setzte (1972), folgt erwartbar, aber eindrucksvoll dem modalen Prinzip, sein einstiger Bandmate Elvin Jones nahm sich das Stück in überraschendem Kontext wieder vor, nämlich im Orgeltrio von John McLaughlin (1994). Coltranes regelrechte Neuerfindung des Songs inspirierte sogar zu ambitionierten Bearbeitungen für nicht gerade naheliegende Ensembles wie das Turtle Island String Quartet (2007). Der Arrangeur Peter Herborn schließlich übersetzte Coltrane – nicht Rodgers und Hammerstein – ins Großformat für Jazzquintett und die WDR Big Band (1992).

Da ist kein Gedanke mehr an Schnitzel und Strudel, ebenso wenig an Salzburg. Mancher, der dort den Spuren der Trapp-Familie folgt, wäre vielleicht froh, wenn’s zwischendurch mal die Gelegenheit gäbe, „My Favo­rite Things“ zu hören. Genug Versionen gibt es ja, aber Coltranes ist und bleibt der Klassiker.

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