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Die Nacht
Von wegen kleine Nachtmusik!
Mozarts Musik zu nächtlicher Geselligkeit
Von
Gerald Felber
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin / Jörg P. Anders [CC BY-NC-SA]

Die Sternenhalle im Palast der Königin der Nacht in der „Zauberflöte“. Entwurf von Karl Friedrich Schinkel (1815)

Kennen wir eigentlich unseren Mozart? Na, dann testen wir mal: Welches ist Wolfgang Amadés längstes Bühnenwerk? Eine der drei großen Da-Ponte-Opern? – Leider falsch. „Idomeneo“? – Auch falsch. Der „Lucio Silla“ des 16-Jährigen schlägt sie alle miteinander (obwohl man vielleicht niemandem zu dieser ungekürzten Erfahrung raten möchte). Bei den Instrumentalwerken dürfte es jedem, der nicht gerade das Köchelverzeichnis im Schlaf hersingen kann, ähnlich gehen. Weder eine der großen Sinfonien noch eines der ausladenden Konzerte ist Mozarts längstes Orchesterwerk, sondern die Haffner-Serenade; und auf kammermusikalischem Gebiet hängen, je nachdem, ob man Gestrichenes oder Geblasenes vorzieht, das Es-Dur-­Divertimento KV 563 für Streichtriobesetzung und die „Gran Partita“ die Konkurrenz um Längen ab: Beide dauern eine runde Dreiviertelstunde.

Womit wir beim Thema wären – denn alle diese Instrumentalwerke sind Serenadenformen, die allerdings nicht immer so heißen. „Divertimento“, „Cassation“, „Finalmusik“, „Partita“, „Notturno“ beziehungsweise „Nachtmusik“: Das ganze bunte Begriffsflickenkleid bezeichnet ähnliche Formverläufe – und darüber hinaus offenkundig ein spezielles Verhältnis zur Zeit. In Sinfonien, Quartetten, Sonaten oder Konzerten muss die Musik „ankommen“; sie bewegt sich von A nach B, es gibt eine – nicht immer völlig schlüssige, aber jedenfalls vorhandene – lineare dramaturgische Entwicklung.

Bei den Serenaden oder Divertimenti dagegen breitet sich die Musik in konzentrischen Kreisen aus. Ein dramaturgisch-ideelles Zentrum ist möglich, aber nicht notwendig – auch der Stein, den man ins Wasser wirft, um schöne gleichmäßige Wellen zu erzeugen, liegt ja danach irgendwo in der Tiefe und ist nicht mehr zu sehen. Stattdessen können zwei langsame Sätze, zwei oder sogar drei Menuette miteinander korrespondieren, sich ineinander spiegeln und den Klängen Gelegenheit geben, sich gelassen auszubreiten; dem entsprechen die Außenteile – Kopfsatz und Finale – und dann, als äußere Schale, jene entzückenden Märsche (die unmilitärischsten, die je geschrieben wurden), die zu Mozarts eigenen Zeiten nicht nur am Beginn der Aufführung gespielt, sondern am Ende noch einmal wiederholt wurden und damit die perfekte Kreisform abrundeten.

Oft werden in den Gesamtverlauf kleine Konzertteile (meist für eine Solovioline) eingehängt – ohne den virtuosen und ideelichen Ehrgeiz der großen Mozart-Konzerte, sondern eher so, als würden sie einem sozusagen im Vorbeigehen unterlaufen. Und das „Vorbeigehen“ trifft es ja dann auch: sowohl im wörtlichen Sinne, weil diese Musik nicht auf konzentrierte Höranstrengung zielt, sondern auf die entspannte Situation von Promenaden- oder Gartenkonzerten; aber auch für das Verständnis der Klänge selbst, die keine komplizierte kontrapunktische Verarbeitung suchen, sondern den sanften Rausch des blanken Genießens – mit apart-zärtlicher Galanterie in den langsamen, meist deftig-vital in den schnellen Sätzen. Alle diese Stücke (mit der ebenso bedeutenden wie rätselhaften Ausnahme der c-Moll-„Nachtmusique“ KV 388 von 1782) haben etwas Süffig-Kulinarisches – auch wenn die Farben gelegentlich ins Moll abschattiert werden.

Das bisher Beschriebene ist sozusagen die komplett ausgestattete Luxusvariante; es gibt auch verkürzte Formen bis hin zu Drei- und Viersatzgebilden im konventionellen frühklassischen Schema. Doch weil es auf den Geist ankommt und nicht auf die Oberfläche, hört man meist trotzdem, wo „Sinfonie“ und wo „Divertimento“ gemeint ist – wobei es durchaus Überschneidungen zwischen beiden gibt, gerade während Mozarts Salzburger Jahren, als die eigenständige sinfonische Form europaweit ohnehin gerade erst im Werden war. Insofern kann man auch eine Erfindung wie die Durchführung im ersten Satz der B-Dur-Sinfonie KV 319 mit ihren irrlichternden, wie trunken durch die Gegend taumelnden Klangfetzen und dem sehnsüchtig ausschweifenden Viernotenmotiv, das später im Finale der Jupiter-Sinfonie zu höchsten Ehren kommt, zu Mozarts Nachtmusiken zählen – vielleicht sogar zu den stimmungsintensivsten.

Zugegeben, da hat eben eine kleine, erklärungsbedürftige Metamorphose stattgefunden. Bisher war vor allem von Serenaden und Divertimenti die Rede – Begriffen, die für bestimmte Formen und Abläufe stehen. Jetzt aber steht da „Nachtmusik“: ein Wort, das ganz andere – atmosphärische, stimmungsmäßige – Konnotationen trägt. Nur ist es eben so, dass beide bei Mozart zwar nicht deckungsgleich sind, wohl aber sehr viel miteinander zu tun haben. Seine Serenadenmusiken (bleiben wir einmal bei diesem alles umfassenden Begriff) kommen als eine Art heitere Großfamilie daher: der Bläserstamm vorwiegend in die gedeckten Moosgrün-, Violett- und Bronzetöne von F- bis Es-Dur gekleidet, die Werke für volle Orchesterbesetzung ganz überwiegend ins hellere, offensive D-Dur. Fast alle wurden im Sommer komponiert: ziemlich viele für studentische Abschlussfeten, woraus sich auch der Begriff „Finalmusik“ herleitet; die Haffner-Serenade für den Polterabend einer Tochter des reichsten Bürgers von Salzburg. Und jene wenigen Werke, die ins Winterhalbjahr fallen, entstanden wahrscheinlich für Neujahrs- oder Faschingsvergnügungen.

So etwas fand natürlich abends und nachts stand, in der warmen Jahreszeit aber überdies – jetzt kommen wir endgültig ins Zentrum unseres Themas – im Freien. Da war dann die Nacht nicht mehr nur draußen vor der Tür, sondern man war mittendrin in der Finsternis; allerdings nicht so allein, wie es später ein Eichendorff und die ihm folgenden Komponisten liebten – die Zeit der innigen Gefühlsbindungen an bestimmte Landschaften und atmosphärische Stimmungen kam erst wenige Jahrzehnte danach. Sicher sind Mozarts Abendmusiken auch Begegnungen mit der Natur, aber wichtiger sind für ihn die Menschen, die sie mit ihren Träumen und Aktionen beleben: turbulente, aufregende und aufgeregte, von äußerem Glanz ebenso wie von verstohlenen Heimlichkeiten erfüllte Gesellschaften, die sich dem gemeinsamen flüchtigen Vergnügen verschrieben haben.

Getränke, um sich in Stimmung zu bringen, dürften genügend vorhanden gewesen sein – und natürlich auch dunkle Ecken, Gebüsche und Winkel, wo man, wenn es darauf ankam, solo oder zu zweien allein sein konnte: vielleicht zur träumerischen Beobachtung des Nachthimmels, aber wohl auch für kommunikativere und lustvollere Angelegenheiten. Es dürften vielleicht doch nicht nur Sternschnuppen gewesen sein, die in solchen Salzburger Sommernächten niederfielen. Immer aber wehte dazu aus der Ferne der fröhliche Lärm der Gesellschaft herüber – und Musik, die sich vielleicht an manchen Plätzen zu Echoeffekten aufschaukelte, wie sie Wolfgang Amadé seinem Notturno KV 286 sozusagen gleich vorab einkomponiert hat.

Brav in den sichtbaren Zonen verbleibend und trotzdem beeindruckend schildert Bernhard Paumgartner (der die längste Zeit seines Lebens selbst in Salzburg verbrachte) solche Stimmungen in seiner alten Mozart-Biografie: „Geheimnisvolle Lichtflecke der Wachsfackeln am Gemäuer über erwartungsvoller Bürgerfeierlichkeit und gesundem Lachen molliger Landkomtessen. Degenklirren im Dunkel, taftenes Rauschen diskreter Talare, ein unwahrscheinlich tiefer Sternenhimmel über der schwarzen Silhouette schöner Bogen und Gesimse … Verstohlen plätschert ein weißer Marmorbrunnen in das Pianissimo der Kantilene.“

Nicht nur in dieser Beschreibung, sondern tatsächlich auch in vielen der für solche Situationen komponierten Klänge spielt Auratisches, Atmosphärisches eine entscheidende Rolle: Das träumerisch Zwielichtige und latent Erotische jener Sommernächte, die nicht auflösbare Einheit von Lockung und Gefahr, das Nebeneinander von Hochgestimmtheit und Melancholie – wer hätte es besser in Töne bringen können als ein 17- bis 23-Jähriger, der Mozart in der Zeit seiner reifen Serenadenkompositionen war? Es ist, wenn man das Wort nicht epochen-, sondern lebensgeschichtlich nimmt, ein romantischer Geist, der viele dieser Serenadensätze bestimmt; ein Geist übrigens, der mir in vielen älteren Mozart-Einspielungen – etwa bei Otmar Suitner oder Neville Marriner – besser vermittelt scheint als in moderneren, strafferen und struktur­orientierteren Aufnahmen.

Mozarts Freiluftmusiken gehören untrennbar an die Salzach, doch ihren Geist, von dem eben die Rede war, hat er später auch mit nach Wien genommen. Er entfaltet sich im Gartenakt des „Figaro“ ebenso bezaubernd wie in manchen Klavierkonzerten – besonders jenem in F-Dur KV 459, dessen erster Satz an die heitere Beschwingtheit der Salzburger Einleitungsmärsche erinnert, während sich das zentrale Allegretto als Notturno voll inniger Zärtlichkeit ausbreitet, in dem noch einmal der Nachtwind durchs Laub zittert und im blauen Mondschatten halblaute, verstohlene Worte getauscht werden.

Und dann gibt’s natürlich noch die „Kleine Nachtmusik“ – passenderweise auch wieder im Sommer geschrieben, auch wenn bisher keiner herausbekommen hat, wofür eigentlich; große Freiluftfeten à la Salzburg gehörten jedenfalls in Wien nicht mehr zu Mozarts Lebensumfeld. Auch ansonsten verhält es sich mit diesen vier Sätzen (die nur ein Torso sind, weil das zugehörige zweite Menuett verschwunden ist) merkwürdig: Jene Millionen Hörer, die von Mozart lediglich diese Viertelstunde Streichermusik kennen, haben von seinen anderen Serenaden meist keinen Schimmer; jenen aber, die diese großen Freiluftmusiken kennen, ist das berühmte KV 525 nur noch so
etwas wie eine Stenogrammschrift dessen, was sich da in ganzer Fülle ausbreitet – gewiss ein Meisterwerk der Öko­nomie und der knapp geformten, griffigen Einfälle, das in ähnlicher Weise zum Markenzeichen seines Machers geworden ist wie für Tschaikowsky der Beginn seines b-Moll-Klavierkonzertes oder der „Frühling“ aus den „Vier Jahreszeiten“ für Vivaldi.

Der besondere Duft von Mozarts früheren „Nachtmusiken“ freilich ist hier sozusagen nur noch als Erinnerung da – schon wegen des Fehlens der Holzbläser und vor allem der Hörner, deren Klangfarben diese spezielle Aura entscheidend geprägt hatten. So ist die „Kleine“ nicht unbedingt ein ideales Futter für Analytiker oder Extensivgenießer, wohl aber für jenen sehr modernen Typ des Spontanhörers, der schnell und ohne
Umwege wissen will, woran er ist – und zumindest darin dann tatsächlich auch wieder eine „Große Nachtmusik“.

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