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Arnold Schönberg
Was tun mit den zwölf Tönen
Arnold Schönberg war längst nicht der einzige Komponist, der eine Zwölftontechnik entwickelte
Von
Martin Demmler

Arthur Lourié, Porträt von Lew Bruni 1915

Die Werke Richard Wagners, Alexander Skrjabins oder Gustav Mahlers hatten das tonale System bis an seine Grenzen geführt. Jetzt war für die Komponisten der nächsten Generation guter Rat teuer. Wie sollte es weitergehen? Konnte der Tonsatz jenseits der funktionalen Harmonik schlüssig organisiert werden? Wie ließ sich noch vermitteln, weshalb man sich als Komponist für eine bestimmte Ton- oder Akkordfolge genau so und nicht anders entschieden hatte? So viel war klar: Eine neue Organisation des Tonsatzes musste her. Und da kamen Komponisten aus unterschiedlichen Kulturkreisen vor allem auf eine Idee: die Töne der Oktave auf neuartige Weise zu organisieren. Vor allem in Russland und in Österreich wurde man aktiv.

Im deutschsprachigen Raum war Arnold Schönberg der Erste, der die Tonalität hinter sich ließ. Mit seinem zweiten Streichquartett op. 10 oder den Drei Klavierstücken op. 11 wagte er sich erstmals auf bis dahin weitgehend unbekanntes Terrain vor. Doch die Probleme seines Vorgehens waren ihm sehr wohl bewusst. Denn für das Erscheinungsbild einer Partitur ließ sich nach Preisgabe des tonalen Systems keinerlei Gesetzmäßigkeit mehr ins Feld führen. Die Konsequenz war, dass sich Schönberg in dieser Phase seines Schaffens entweder auf sehr kurze Werke oder auf Vokalmusik konzentrierte, bei der man gewissermaßen „am Text entlang“ komponieren konnte. Ein Extrembeispiel waren seine Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 aus dem Jahr 1911 mit einer Dauer von meist weniger als einer Minute.

In Russland standen die Komponisten in der Nachfolge Alexander Skrjabins vor ähnlichen Herausforderungen. Einer der interessantesten Vertreter der dortigen Avantgarde war Arthur Vincent Lourié. Geboren 1891 in Propoisk als Naum Israilewitsch Lurja, wählte er mit Anfang 20 diesen Künstlernamen aus Bewunderung für Arthur Schopenhauer und Vincent van Gogh. Als begeisterter Anhänger der Oktoberrevolution wurde er 1918 als Musikbeauftragter in das Volkskommissariat für Bildungswesen berufen. Zwischen 1913 und 1922, vor seiner Emigration nach Berlin, gehörte er neben Ossip Mandelstam, Wladimir Majakowski und Anna Achmatowa zu den wichtigsten Protagonisten der modernen Kunst in Russland. Im Westen interessierte man sich zunächst sehr für seine Musik. Seine Werke wurden häufig aufgeführt, etwa vom berühmten Amar-Quartett mit Paul Hindemith an der Bratsche. In späteren Jahren, Lourié ging von Berlin nach Paris und schließlich in die Vereinigten Staaten, zog er sich immer mehr aus der Musikszene zurück und starb 1966 weitgehend mittellos in Princeton.

Im Mittelpunkt seines kompositorischen Schaffens stand das Klavier – Lourié war ein hervorragender Pianist. Seine Deux Poèmes op. 8 experimentieren noch mit einer erweiterten Tonalität und arbeiten weiter mit Tonartvorzeichen. Doch in den „Synthèses“ op. 16 aus dem Jahr 1914 sind die mächtigen Akkorde mit einer konventionellen harmonischen Analyse nicht mehr darstellbar. Stattdessen finden sich hier erstmals zwölftönige Gebilde und die Idee einer Gleichberechtigung aller zwölf Töne der Oktave. Doch Lourié, dem es vor allem um ein neues Verständnis von Zeit und Raum in der Kunst ging, verfolgte diesen Ansatz später nicht weiter und setzte sich stattdessen mit seinem nächsten wichtigen Klavierwerk, den „Formes en l’air“ mit neuen Möglichkeiten der Notation auseinander.

Zur gleichen Zeit wie Lourié experimentierte auch Nikolas Obuchow mit dodekaphonen Modellen. Er entwickelte 1914 eine „Harmonie der zwölf Töne ohne Verdopplungen“, wozu er auch eine eigene Notation benutzte. Vor allem in seinem mystisch geprägten Hauptwerk „Le livre de vie“, an dem er bis zu seinem Tod 1954 arbeitete, finden sich Folgen von Zwölftonfeldern, die meist durch Pedalisierung zu gewaltige Klangblöcken verschmolzen werden.

Der aus dem Gebiet der heutigen Ukraine stammende Nikolaj Roslawez war der einzige Vertreter der russischen Avantgarde, der seinen Ansatz zu systematisieren versuchte. Mit seinem „Neuen System der Tonorganisation“ entwickelte er eine eigene Kompositionslehre, die vor allem auf der Verwendung sogenannter „Synthetakkorde“ beruht. Ein Synthetakkord besteht in der Regel aus sechs bis acht Tönen. Es sind speziell für das jeweilige Stück ausgewählte Tonkomplexe, aus denen alle melodischen und harmonischen Beziehungen der Komposition abgeleitet werden. Außerdem gibt es eine Tendenz, alle Töne eines Synthetakkords innerhalb eines begrenzten Zeitraums erklingen zu lassen. Ähnlich wie Schönbergs Zwölftontechnik sollte durch das „Neue System“ das überkommene tonale Prinzip ersetzt und in eine lehrbare Form gebracht werden. Wegen seiner systematischen Vorgehensweise galt Roslawez in den 1920er Jahren als eine Art „russischer Schönberg“. Kompositorisch wirksam wurde seine Methode etwa in dem 1915 entstandenen Klavierstück „Quasi-Prélude“.

Während die russischen Avantgardisten vor allem mit Klangfeldern und Tonkomplexen arbeiteten, standen in Österreich lineare Organisationsformen im Vordergrund. Es ging in erster Linie darum, die zwölf Töne der Oktave in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu bringen. Im Kern gipfelten diese Bemühungen darin, alle Halbtöne gleichberechtigt in einer Reihe zu versammeln. Das erste zwölftönige Werk, das im deutschsprachigen Raum ersonnen wurde, schrieb Joseph Matthias Hauer. Hauer war als Komponist Autodidakt. Ein Einzelgänger und Querdenker und zugleich eine außerordentlich eindrucksvolle Persönlichkeit. Franz Werfel porträtierte das kauzige Original in der Gestalt des Komponisten Mathias Fischböck in seinem Roman „Verdi“.